Inhalt
1. Worum es geht und was getan werden kann
Es gibt Situationen, die man sich nicht ausgesucht hat, aber auf die man entschieden reagieren will. Doch das klappt nicht immer. Denn unvermutet teilt ein Gegenüber Sprüche mit oder trifft Aussagen, die den Kern der eigenen Wertvorstellungen berühren und damit im Widerspruch stehen. Vorgetragen wird das keineswegs in einer behutsamen, auf Verständigung angelegten Art und Weise. Im Gegenteil: laut, kategorisch, ultimativ und ohne Wenn und Aber wird etwas in den Raum geworfen. Es stellt sich Überraschung ein, man fühlt sich überrumpelt, es verschlägt einem im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache. Danach, wenn die Situation vorüber und die Person, von der diese Äußerung kommt, verschwunden ist, fallen dann doch die passenden Reaktionen und Antworten ein. Zu spät? Nein, man kann sich darauf vorbereiten und beim nächsten rhetorischen Überfall gewappnet sein.
Worum geht es eigentlich?
Jetzt aber konkreter: Was ist gemeint? Der Begriff, der die eben geschilderte Situation erfasst und den Inhalt dessen benennt, was dabei mitgeteilt wird, ist „Stammtischparole“. Zunächst eine Klärung: Es geht nicht um Stammtische im allgemein bekannten Sinn, also um die Runden der Stammgäste in Kneipen und Gasthäusern. Sicherlich wird auch da viel herumschwadroniert und ungefiltert Dampf abgelassen, nicht unbedingt immer in zivilisierter Form. Doch Stammtischparolen werden keineswegs nur in Wirtshäusern geäußert, sie sind in allen Bereichen der Gesellschaft, an nahezu allen Orten, Ecken und Möglichkeiten der Begegnung präsent: am Arbeitsplatz, an der Ladentheke, im Gespräch mit dem*der Nachbar*in am Gartenzaun, man hört sie bei der Zugfahrt oder – was viele besonders belastet – bei Familienfeiern oder im Freundeskreis. Stammtischparolen sind immer und überall zugegen, sie sind kein Randphänomen, sondern sie kommen aus der Mitte der Gesellschaft.
Die Stammtischparole steht stellvertretend für zugespitzte und drastisch vorgetragene rassistische, populistische, diskriminierende und sexistische Äußerungen, die in Umlauf gebracht werden und mit Halbwahrheiten bestückt sind. Stammtischparolen sind polarisierend und transportieren negative Vorurteile. Menschengruppen werden pauschalisiert und in Kategorien einsortiert, die Welt wird eingeteilt in ein schlechtes
„Die“, dem ein gutes „Wir“ gegenübersteht. Auf die komplexen Fragen und Herausforderungen, die unsere individualisierte und globalisierte Welt mit sich bringt, werden einfache Antworten gegeben. Probleme, die differenzierte Betrachtungen und Lösungen erfordern, werden auf einschlägige und pauschale Mitteilungen reduziert. Es wird nicht ründlich überlegt, sondern einfach etwas behauptet. Mit diesen oft hasserfüllten Aussagen wird die Welt in „richtig“ und „falsch“ eingeteilt.
Die Stammtischparole ist ein Stellvertreterbegriff für eindeutige weltanschauliche, vorzugsweise politische Botschaften, für platte Sprüche und für aggressive Rechthaberei. Was damit gemeint ist, ist landauf, landab bekannt, in Deutschland, Österreich und der Schweiz; auch in anderen Ländern gibt es entsprechende Begriffe.
Wenn ich die Teilnehmer*innen meiner Seminare danach frage, wie sie Stammtischparolen allgemein charakterisieren, dann kommt Folgendes heraus: Stammtischparolen sind … aggressiv, dogmatisch, verkürzt, pauschal, herabsetzend, diskriminierend, voller Vorurteile, selbstgerecht, Halbwahrheiten, Schwarz-Weiß-Malerei, ausgrenzend, kompromisslos, verallgemeinernd, vereinfachend, rigoros, diffamierend, generalisierend, negierend, emotional, menschenverachtend, „Wir-Gefühl“-erzeugend, einfach strukturiert, mit Schein-Wissen aufgeladen …
Trotz ihrer Schlichtheit und Banalität ist es keineswegs einfach, Stammtischparolen spontan zu widerlegen. Für den Seelenhaushalt derjenigen, die diese Parolen verkünden, erfüllen sie eine Doppelfunktion: Sie sind Mutmacher und Wutmacher zugleich. Diese Beschreibung bringt den Zwiespalt auf den Punkt, in dem man sich bei der Einschätzung von Stammtischparolen befindet. Sie werden geäußert, um Mut zu demonstrieren – gleichzeitig enthalten sie viel Wut. Bei denjenigen, die mit ihnen wider Willen konfrontiert werden, lösen sie ebenfalls Wut aus – und mobilisieren hoffentlich auch den Mut, ihnen etwas entgegenzusetzen.
Welche Stammtischparolen gibt es?
Das Repertoire der Stammtischparolen scheint unerschöpflich zu sein. Es gibt immer wiederkehrende Sprüche und außerdem solche, die aus den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Begebenheiten heraus entstehen. Sie sind wie ein Seismograph der jeweiligen politischen Kultur – oder eher Nicht-Kultur – und der aktuellen Stimmung in der Gesellschaft.
Hier nun einige Beispiele der Parolen, die derzeit im Umlauf sind – einige davon sind regelrechte „Klassiker“, die es nahezu schon immer gab. Alle sind in meinen Argumentationstrainings von den Teilnehmer*innen genannt worden:
- „Früher hätte es so etwas nicht gegeben.“
- „Die da oben machen doch, was sie wollen.“
- „Politik ist ein schmutziges Geschäft.“
- „Wir brauchen wieder einen starken Mann an der Regierung.“
- „Wir haben zu viele Parteien, eine würde reichen.“
- „Wer Arbeit will, findet auch welche.“.
- „Die meisten Arbeitslosen sind zu faul, um Arbeit zu suchen.“
- „Irgendwann muss Schluss sein mit unserer Geschichte.“
- „Wir sind die Zahlmeister Europas.“
- „Durch die EU werden wir noch mehr überfremdet. Das sieht man ja an den vielen Bulgaren und Rumänen, die hier sind.“
- „Wir brauchen wieder eine richtige deutsche Leitkultur.“
- „Polen klauen.“
- „Wir haben viel zu viele Ausländer hier.“
- „Unsere deutsche Identität ist in Gefahr – wir sind nicht mehr Herr im eigenen Land.“
- „Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg.“
- „Den Flüchtlingen kann es nicht so schlecht gehen, alle haben Smartphones.“
- „Flüchtlinge vergewaltigen unsere Frauen und Mädchen.“
- „Bald werden wir hier vom Islam regiert.“
- „Die Muslime wollen sich nicht integrieren.“
- „Asylbewerber sind Wirtschaftsflüchtlinge.“
- „Ihre Armut haben die Entwicklungsländer selbst verschuldet.“
- „Schwarze sind Dealer.“
- „Es ist von der Natur so angelegt, dass Rassen sich nicht mischen sollen. Pferde und Schweine kreuzen sich ja auch nicht.“
- „Emanzipierte Frauen sind in sexueller Hinsicht zu kurz gekommen.“
- „Frauen werden nur lesbisch, weil sie keinen Mann bekommen haben.“
- „In jedem Mann steckt ein potentieller Vergewaltiger.“
- „Homosexualität ist widernatürlich.“
- „Die Juden beherrschen wieder das Kapital.“
- „Die Schüler werden immer dümmer.“
- „Das internationale Kapital hat die Welt unter sich aufgeteilt.“
- „Hinter der Einwanderung von Millionen Muslimen nach Deutschland steckt ein geheim gehaltener Plan.“
Die hier versammelten Parolen zeigen, worum es geht: um ein autoritäres Verständnis von Politik und Gesellschaft, Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, Relativierung, mitunter auch um eine Verklärung des Nationalsozialismus und um die Ablehnung, sich mit der belasteten deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Unterrepräsentierte gesellschaftliche Gruppen werden mit pauschalen Verunglimpfungen belegt. Die Tiraden richten sich unter anderem gegen Flüchtlingspolitik, Asylpolitik, Entwicklungspolitik, Sozialpolitik und viele andere Politikfelder.
Eines dürfte deutlich sein: Leicht ist es nicht, solche Parolen auszuhebeln. Auf einen argumentativen Austausch, auf das Interesse am Denken und Empfinden des Gegenübers, auf eine eigene Meinungsbildung mit dem Ziel, eine bessere Erkenntnis, eine erweiterte Sicht zu gewinnen, kommt es bei denjenigen, die die Stammtischparolen äußern, offensichtlich nicht an. Im Gegenteil: Ihnen geht es zunächst einmal um Selbstbestätigung, Selbstbehauptung und Selbstgerechtigkeit. „Die sanfte Gewalt der Vernunft“, von deren Wirksamkeit Bertolt Brecht überzeugt war (Brecht 1968, 34), richtet gegen vorurteilsbeladene, autoritätsgestützte Ressentiments nicht viel aus. Denn da fehlt „die Bereitschaft, sich durch Argumente überzeugen zu lassen“ (Kopperschmidt 2000, 101 f.). Die Realität zeigt, dass logisches, schlüssiges Argumentieren nicht an eine Argumentationsbasis herankommt, die auf „fundamentale[n] Werturteile[n], Glaubenssätze[n], Prinzipien“ beruht (Schleichert 2017, 14). Gleichberechtigtes, reziprokes Argumentieren bedeutet und erfordert Offenheit: „Wenn wir einfach die Thesen oder Dogmen [...] bestreiten oder negieren, so ist das keine Argumentation. Wir ersetzen bloß ein dogmatisches System durch ein anderes“ (ebd., 63).
Wieso soll man handeln?
Es wäre fatal, wenn jetzt der Eindruck entstehen würde, es habe keinen Sinn, es sei aussichtslos, sich mit Stammtischparolen und denjenigen auseinanderzusetzen, die diese äußern. Das wäre falsch, und zwar aus den folgenden Gründen:
- Grundsätzlich gilt: Wer schweigt, stimmt zu.
- Wer gute Argumente hat, der hat auch Sicherheit im Auftreten. Er*sie weiß, dass die eigene Position von vielen anderen geteilt wird, auch wenn diese gerade nicht anwesend sind.
- Man kann sicher davon ausgehen, dass die guten Gegenargumente mit überprüfbaren Fakten und seriösen Quellen gestützt und durch sie bestätigt sind.
- Ein Gespräch ist noch nicht vorbei, wenn es formal beendet ist. Das, was gesagt wurde, wirkt nach, wird vielleicht in einer angemessenen Zeit neu bedacht und mit zwischenzeitlich hinzugekommenen Erfahrungen verknüpft. Möglicherweise entfaltet es dann seine Wirkung.
- Es gibt ja noch die „Dabeisitzer“, die Unentschiedenen, die Zuhörer*innen. Sie sind die eigentlichen Adressat*innen, sie können am ehesten überzeugt, vielleicht davon abgehalten werden, den „falschen“ Aussagen zuzustimmen. Sie werden aufmerksam beobachten, wie plausibel der Widerspruch zu den Sprüchen und Parolen erscheint.
- Mit guten Argumenten wird deutlich, dass die „Lufthoheit“ an den Supermarktkassen, in den Straßenbahnen, den Zugabteilen, an den Gartenzäunen, in den Kantinen, bei den Familienfeiern und im Freundeskreis etc. nicht denjenigen überlassen werden darf, die ungehemmt ihre Parolen verkünden.
- Es ist wichtig, Partei zu ergreifen für eine liberale und soziale Demokratie, für eine zivilisierte Bürgergesellschaft, gerade in einer Zeit, in der diese bedroht ist durch nationalistisches Denken und Parteien, durch rechtsextreme Gruppierungen und die Verbreitung einer entsprechenden Gesinnung. Ein Kennzeichen einer solchen Bürgergesellschaft ist, dass sich die Menschen „höflich, tolerant und gewaltlos“ verhalten (Timothy Garton Ash, zitiert nach Dahrendorf 1992, 70).
- Menschen mit autoritären Denkmustern und Einstellungen – und solche dürfen bei denjenigen vermutet werden, die beinharte Positionen herauskehren – sind durchaus zu beeindrucken von Personen, die klar und entschieden auftreten, standhaft ihren Widerspruch ausdrücken. Das fällt dann leicht, wenn man die Sicherheit guter Argumente hat. Diese kann man erlernen und festigen.
- Schließlich äußern sich Vorurteile nicht nur in Worten. Es gibt fließende Übergänge vom Wort zur Tat. Diejenigen, die man verbal verunglimpft, können zu Opfern gewalttätiger Übergriffe werden. Wer bei den Äußerungen interveniert, schützt Bedrohte und Verfolgte.
Was kann man tun?
Trotz dieser grundsätzlichen Einsicht reagieren viele, die mit Stammtischparolen konfrontiert werden, ernüchtert oder gar resigniert. Sollte man daher solchen Gesprächen nicht lieber ausweichen? Man hat ja sowieso keine Chance, regt sich nur auf, riskiert gar eine Eskalation. Doch es gibt bewährte Gegenstrategien:
Das Parolenspringen nicht mitmachen
Die Protagonist*innen der Parolen wechseln bei der Auseinandersetzung mit ihren Sprüchen häufig von einem Thema zum nächsten, bringen schlagwortartig eine Parole nach der anderen ins Spiel. Das sollte möglichst gestoppt werden. Wer dagegenhalten will, sollte darauf beharren, beim Thema zu bleiben.
Initiative ergreifen
Wer Parolen von sich gibt, befindet sich aller Erfahrung nach sofort in der Offensive. Daher sollten diejenigen, die widersprechen, die Initiative und die Gesprächsführung übernehmen.
Gesprächsregeln herstellen
Wird es zu laut und gerät alles durcheinander – was in solchen Situationen eigentlich immer der Fall ist –, dann gilt es, Regeln aufzustellen und einzufordern, z. B. darauf zu bestehen, sich gegenseitig ausreden zu lassen.
Gezielt nachfragen
Wer hemmungslos Parolen verkündet, ergeht sich in Allgemeinplätzen. Dann sollte er*sie angehalten werden, mitzuteilen, was konkret gemeint ist, also „Ross und Reiter“ nennen: „Was heißt das genau und im Detail?“, „Welche Personen, von denen du gerade redest, kennst du?“, „Welche Beispiele kannst du anführen?“.
Zum Zuhören zwingen
Stammtischparolen werden nicht mit der Absicht verkündet, echte Gespräche zu führen. Um aber dennoch zumindest ansatzweise einen Austausch zu ermöglichen, sollte man darauf bestehen, sich gegenseitig zuzuhören.
Keine Belehrung
Wer belehrt, ruft Abwehr hervor. Wer lässt sich schon gerne freiwillig pädagogisieren? Belehrungen wirken überheblich, besserwisserisch und führen zu Abschottung.
Nicht moralisieren
Wer moralisiert, also empört den Zeigefinger erhebt, will seine tiefere, also bessere Erkenntnis demonstrieren. Das kommt nicht gut an.
Sich positionieren
Der eigene Standpunkt sollte mit dem Hinweis auf die Menschenrechte, das Grundgesetz, humanitäre Gebote des Christentums oder anderer Religionen, philosophische Ethik, politische Überzeugung oder Ähnliches begründet werden. Gezeigt wird, welche Werte man vertritt und verteidigt. Dies bietet auch ein sicheres Fundament für die eigene Argumentation.
Das „Die“ auflösen
„Die Ausländer“, „die Juden“, „die Schwulen“, „die Politiker“ … – charakteristisch für Stammtischparolen ist, wie pauschal und verallgemeinernd sie Menschen einordnen. Deshalb sollte man nachfragen, wer genau gemeint ist: Gehört zu „den Ausländern“ beispielsweise auch der italienische Gastwirt, der türkische Gemüsehändler, die spanische Mitschülerin der Tochter, der österreichische, dänische oder niederländische Grenznachbar, die iranische Ingenieurin, der marokkanische Paketbote, die indische IT-Spezialistin, der japanische Manager, der syrische Facharzt? Nebenbei: Sind sie vielleicht schon Deutsche?
Probleme verdeutlichen
Allgemeine Verunglimpfungen kommen leicht daher; schwer zu beantworten sind hingegen z. B. folgende Nachfragen: „Wie soll später deine Rente gesichert werden, wenn nicht durch Rentenbeiträge von Ausländer*innen?“ oder „Willst du etwa mitansehen, wie anderswo Menschen wegen ihres Glaubens oder ihrer politischen Einstellung gefoltert und ermordet werden?“.
Widersprüche aufdecken
Niemand lebt im völligen Einklang mit sich selbst, sicherlich auch nicht diejenigen, die lauthals ihre Parolen von sich geben. Bei allzu viel Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus ist es daher z. B. angebracht, auf den Pullover des Gegenübers zu verweisen, der möglicherweise aus Bangladesch kommt oder zu fragen, wo die Billigwaren produziert werden, die wöchentlich bei Aldi, Lidl oder Tchibo im Sonderangebot gekauft werden.
Sich an Sokrates erinnern
Von Sokrates (469 v. Chr. – 399 v. Chr.) stammt die Methode der „Hebammenkunst“ (Mäeutik) – einer „Geburtshilfe“, die in zielgerichtetem Fragen, Nach- und Weiterfragen besteht. Sokrates verhalf seinen Gesprächspartnern damit zur Einsicht, dass ihre Einstellungen widersprüchlich waren und in die Irre führten. Am Ende durchschauten sie das. Mit dieser Methode kann man auch Parolenverkünder*innen in Widersprüche verwickeln oder in unhaltbare Positionen bringen. Der Trick ist, dass man aus der Rolle des*der Antwortgeber*in sowie aus der Verteidigungshaltung und dem Druck der Erklärung hinausgeht und stattdessen selbst Fragen stellt sowie auf Antworten drängt.
Die Luft herausnehmen
Steigt die Tonlage und wird der Umgang schroff – was sehr schnell passieren kann, denn es sind intensive Gefühle im Spiel –,dann ist es sinnvoll, mit einer ablenkenden Bemerkung zur Entkrampfung beizutragen. Einfach auf etwas anderes hinzuweisen, hilft.
Gefühle ansprechen
Aggressionen sind Gefühlsäußerungen, sie verraten viel über die Lebenssituation und die Bedürfnisse der Person, die markante Sprüche und unreflektierte Parolen von sich gibt. Vielleicht tritt in der Heftigkeit der Aussage eine Angst, ein Bedrohungsgefühl, eine Kränkung zutage.
Dennoch ist der Stammtisch ein denkbar ungeeigneter Ort für Therapieversuche. Wer z. B. persönlich wird und mit betont sanfter Stimme fragt: „Wovor hast du Angst?“ oder „Welches Problem hast du mit …?“, der hat schon verloren. Denn wer will sich schon ungebeten von irgendjemandem in die Seele schauen und sich gar ein psychisches Problem bescheinigen lassen? Außerdem wäre das die falsche Fährte: Rassismus z. B. ist schlicht und ergreifend menschenverachtend und keineswegs ein entschuldbares psychisches Defizit. Ernstnehmen aber sollte man solche Gefühle durchaus. Vielleicht eröffnet ja die etwas anders ausgerichtete Frage „Warum regst du dich so auf?“ eine völlig neue Perspektive.
Brücken bauen
Hinter vielen Parolen steckt durchaus eine subjektiv erlebte Wahrheit. Statt zu mauern, kann es in diesen Fällen sinnvoll sein, Brücken zu bauen. Die Lösungsformel hieße dann: „Du hast ja auch Recht, aber sieh doch mal …“ So entsteht eine Beziehung zum Gegenüber und die starre Konfrontation wird aufgebrochen.
Grenzen setzen
Auch wenn es gilt, Brücken zu bauen, sollten Grenzen gezogen werden. Denn bei blanker Menschenverachtung, offenem Rechtsextremismus oder purem Rassismus darf es keinen Kompromiss geben. Wer beispielsweise behauptet, Auschwitz sei eine Lüge, mit dem ist kein Gespräch möglich, jede Holocaustleugnung ist indiskutabel. Es sollte deutlich benannt werden, was diese Aussage ist: nichts anderes als Neonazismus. Dann ist das Gespräch auch schleunigst zu beenden, das heißt: aufstehen und weggehen.
Die Perspektive wechseln
Warum so viel Abwehr denjenigen gegenüber, die anders sind, anders leben, anders aussehen, eine andere Herkunft, eine andere Religion haben? Ist da möglicherweise auch Neid im Spiel? Man kann diese Vermutung ansprechen, aber in der Wir-Form(denn es gilt ja, Brücken zu bauen): „Vielleicht sind wir ja nur neidisch auf ihre Art zu leben und ihre Lebenseinstellung?“ Oder man kann auf ein anderes Szenario hinweisen: „Was wäre, wenn man selbst einmal um Asyl bitten müsste?“ oder „Was wäre, wenn die Nationalsozialisten noch an der Macht wären und wir den Krieg gewonnen hätten?“ (Bei dieser Frage öffnet sich ein sehr weites Feld …).
Auf die Unentschiedenen achten
Ein Gespräch ist selten so strukturiert, dass es nur zwei Seiten gibt, entschiedene Pro- und eindeutig erkennbare Contra-Vertreter*innen. Dazwischen befinden sich zumeist noch andere: Indifferente, Abwartende, Dabeisitzende, Unentschlossene, Zögernde und Zaudernde. Sie – und nicht der harte Kern derjenigen, die bloß ihre Parolen dreschen – sie sind die eigentlichen Adressat*innen des Gesprächs. Auf sie kommt es in erster Linie an: Sie sind noch offen und ansprechbar, sie lassen sich noch beeindrucken von der Entschlossenheit, mit der Widersprüche zu den Parolen geäußert werden, und von Argumenten überzeugen.
Authentisch bleiben
Überzeugungsstärke, Entschiedenheit, Klarheit, Geradlinigkeit, Echtheit, Authentizität imponieren, und zwar gerade denjenigen, die ein Autoritätsproblem haben (und ein solches verbirgt sich oft hinter den markigen Sprüchen). Sie sind zu beeindrucken von Personen, die diese Kraft haben.
Witz und Ironie einbringen
Ironie zeigt Absurditäten auf, verdeutlicht Widersprüche und entkrampft. Ein Beispiel: „Jeder Sozialhilfeempfänger hat einen Hund und ein Handy.“ – Antwortmöglichkeit 1: „Soll er seinen Hund erschießen?“; Antwortmöglichkeit 2: „Das ist ja toll – wann gehst du zum Sozialamt?“. Ein weiterer Fall: „Wir brauchen wieder ein Nationalbewusstsein.“ – Antwort: „Machst du auch jeden Morgen Flaggenparade in deinem Garten?“. An den Dadaismus erinnert folgender Wortwechsel: „Deutschland den Deutschen.“ – Antwort: „Und Pizza den Pizzen.“. Allerdings ist Vorsicht ´ geboten: Zynismus ist hier nicht gemeint, er verletzt und verschärft die Situation.
Ansprüche reduzieren
Man muss wissen, dass die Einstellungen, die zu den Parolen führen, zum Kontinuum einer Lebensgeschichte gehören. Die zum Ausdruck gebrachten Vorurteile und Zerrbilder haben sich diese Menschen über Jahre hinweg angeeignet. Die Konfrontation mit einer Gegenposition ändert da zunächst oft wenig. Denn häufig gilt: „Was ohne Argumente geglaubt wird, kann auch nicht mit Argumenten widerlegt werden.“ In diesem Satz steckt ein plausibler Kern. Dahinter steht nämli ch die Erkenntnis, dass Parolen nicht zuletzt auf bestimmten psychosozialen Bedingungen und Faktoren beruhen. Für diese sind nicht diejenigen verantwortlich, die dagegenhalten.
Die langfristige Wirkung beachten
Ein Gespräch ist noch nicht vorbei, wenn die Begegnung formal beendet ist. Das Gesagte wirkt nach, gerade wenn – siehe oben – der* die Widersacher*in mit Authentizität überzeugt hat. Aus vielerlei Gründen (z. B. der Angst vor einem Gesichts- oder Prestigeverlust) werden während des Gesprächs oftmals noch keine Zugeständnisse gemacht. Aber vielleicht verknüpfen sich die gehörten Worte Wochen oder Monate später mit zwischenzeitlich hinzugekommenen Erfahrungen und entfalten schließlich doch noch eine Wirkung.
Ist das alles zu viel? Keine Sorge, auswendig gelernt werden sollen diese Empfehlungen nicht. Aber wer sich auf die Auseinandersetzung mit Stammtischparolen einlässt, wird merken, dass Widerspruch gelingen kann. Und nach mehreren solcher Debatten kommen gute Reaktionsmöglichkeiten wie von selbst.
2. Die Gesellschaft, aus der sie kommen
Stammtischparolen sind keine individuellen Wutausbrüche, keineswegs nur persönliche Hasskommentare oder lediglich ein Ventil, um den eigenen Frust loszuwerden. Das würde den Umgang mit ihnen zwar relativieren und erleichtern, die Lösung wäre dann allerdings, lediglich die Erregung des Gegenübers zu besänftigen, vielleicht auch einen persönlichen Therapieversuch zu unternehmen.
Das mag auch sinnvoll sein, das Problem wäre aber nicht gelöst. Stammtischparolen sind nämlich keine Einzelfälle, dafür werden sie viel zu häufig geäußert. Hinter ihnen steckt mehr: Mit ihnen zeigt sich der brodelnde Untergrund unserer Gesellschaft. Stammtischparolen demonstrieren, wie die Menschen auf die soziale, politische, ökonomische und kulturelle Situation der Gesellschaft, in der sie leben, reagieren. Mit den Parolen und Sprüchen wird das geäußert, was in weiten Teilen der Gesellschaft empfunden und gedacht wird. Sie sind ein Spiegel der bestehenden und sich verändernden Verhältnisse. Sie sind auch ein Warnzeichen dafür, wie schwankend der Boden einer zivilgesellschaftlichen Demokratie ist.
Menschenfeindlichkeit in der Mitte der Gesellschaft
Autoritäre, ausgrenzende, demokratieverachtende, rassistische, antisemitische und sexistische Aussagen sind kein Randphänomen, sondern sie kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Mit einer passenden Ideologie und Programmatik docken rechtsextremistische Parteien und Stimmungsmacher*innen hier an, durchaus mit Erfolg. Darüber sind sich die Wissenschaftler*innen, die die Verbreitung dieser Einstellungen erforschen, einig. Allein die Titel der neueren Untersuchungen belegen das. Die der gesellschaftlichen Mitte zugeschriebenen Attribute sind eindeutig und unmissverständlich: Den empirischen Befunden zufolge ist sie in weiten Bereichen „fragil“, „enthemmt“, „gespalten“, „verloren“, „feindselig“ und „autoritär“.* Das hat Folgen für die politische Kultur: Forscher*innen beobachten eine „Dekonsolidierung der Demokratie“ (Zick / Küpper / Berghan 2019, 18). Ihre Ergebnisse zeigen, dass die Mitte der Gesellschaft – also die große Mehrheit, die in sozialer Hinsicht weder die „oberen“ noch die „unteren“ Plätze eingenommen hat bzw. einnehmen musste – kein Garant demokratischer Stabilität ist: „In der Mitte der Gesellschaft wurden und werden Ansichten und Themen artikuliert und zur Diskussion gestellt, die dem Selbstverständnis der bundesrepublikanischen Demokratie fundamental widersprechen. […] Die gesellschaftliche Mitte ist kein Ort des Maßes und der Mäßigung […]“ (Decker / Brähler 2018, 25).
Der Bielefelder Sozialisationsforscher Wilhelm Heitmeyer hat zusammen mit anderen Wissenschaftler*innen über zehn Jahre hinweg die Ängste und Einstellungen der Deutschen untersucht. Jedes Jahr hat er einen mit vielen Daten, Analysen, Interviews und Fallstudien gefütterten Band zu den „Deutschen Zuständen“ herausgegeben (Heitmeyer 2002 – 2012). Dabei wurde ein Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) entdeckt, mit Empirie belegt und auf Basis einer Langzeitstudie immer weiter differenziert. Mittlerweile umfasst das GMF-Syndrom 13 Elemente, die insgesamt eine Ideologie der Ungleichwertigkeit widerspiegeln: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit, Abwertung von Sinti und Roma, Abwertung asylsuchender Menschen, Sexismus, Abwertung homosexueller Menschen, Abwertung von Trans*Menschen, Abwertung wohnungsloser Menschen, Abwertung langzeitarbeitsloser Menschen, Abwertung von Menschen mit Behinderung, Etabliertenvorrechte mit abwertenden Urteilen über „Neuhinzukommende“ (Zick / Küpper / Berghan 2019, 58 ff.). Die bereits genannten Mitte-Studien (s. *) beziehen sich in ihren Erhebungen auf dieses GMF-Syndrom.
Die einzelnen Kategorien des GMF-Syndroms entsprechen den Äußerungen, die
sich in Stammtischparolen wiederfinden (siehe S. 4 f.). Wie verbreitet sie sind, zeigen die folgenden Befunde der derzeit aktuellsten Mitte Studie; hier einige Beispiele (Prozentwerte für die Antwortmöglichkeiten „Ich stimme eher zu“ und „Ich stimme voll und ganz zu“):
- „Die Weißen sind zu Recht führend in der Welt.“: 10,6%
- „Es leben zu viele Ausländer in Deutschland.“: 35,0%
- „Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss.“: 8,1%
- „Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land.“: 34.9%
- „Die meisten Asylbewerber werden in ihrem Heimatland gar nicht
verfolgt.“: 44,2% - „Frauen sollten sich wieder mehr auf die Rolle der Ehefrau und Mutter besinnen.“: 12,1%
- „Es ist ekelhaft, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen.“: 14,8%
- „Die meisten Obdachlosen sind arbeitsscheu.“: 11,7%
- „Die meisten Langzeitarbeitslosen sind nicht wirklich daran
interessiert, einen Job zu finden.“: 50,6% - „Wer irgendwo neu ist, sollte sich erst mal mit weniger zufriedengeben.“: 65,3%
(ebd., 70ff.).
Eine andere Erhebung, die Studie einer Arbeitsgruppe der Universität Leipzig, hat ebenfalls Heitmeyers Ansatz übernommen und dabei festgestellt, dass zwischen 2014 und 2016 die Islamfeindlichkeit „stark zugenommen“ hat: „[Ü]ber 40 % wollen Muslimen / Muslima die Zuwanderung nach Deutschland untersagen.“ Angewachsen ist auch die Abwertung bzw. Ablehnung von Sinti und Roma, von Asylbewerber*innen und von Homosexuellen (Decker / Kiess / Brähler 2016, 49 f.). In der Zeit der Untersuchung kam etwa eine Million geflüchteter Menschen nach Deutschland.
Seit über 20 Jahren führe ich meine Seminare gegen Stammtischparolen durch. In der Tat häufen sich seit 2015 – der Öffnung der Grenzen für Schutzsuchende – Parolen antimuslimischen, antiislamischen Inhalts oder solche, die die Beweggründe der Asylsuchenden abwerten. In einigen unserer Workshops dominieren sie die Diskussion fast vollständig.
* Zick / Klein 2014, Decker / Kiess / Brähler 2016, Zick / Küpper / Krause 2016, Decker / Brähler 2018, Zick / Küpper / Berghan 2019.
Politik mit den Stammtischparolen
Was sich hinter diesen Einstellungen verbirgt bzw. mit ihnen zum Ausdruck kommt, kann man als „populistisch“ bezeichnen. Inhaltlich und ideologisch sind rechtspopulistische Aussagen zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus zu verorten. Sie können ein Bindeglied zum Rechtsextremismus sein, dessen Protagonist*innen grundsätzlich die Demokratie abschaffen wollen, und zwar durch „national-revolutionäre“ Aktionen. Der organisierte Rechtsextremismus hat dafür einen Nährboden in populistischen, anomischen, ausgrenzenden, diffamierenden, vorurteilsbeladenen, antidemokratischen Haltungen und Bewertungen.
Gerade, weil Rechtspopulismus zwischen diesen beiden Polen changiert, ist es schwierig, ihn trennscharf zu definieren. Dennoch gibt es konkrete Merkmale des Rechtspopulismus, die verallgemeinert werden können:
- Das eigene Volk wird als „eine gute Gemeinschaft“ konstruiert, „die von zwei Seiten bedroht werde: von einer korrupten Elite und von Fremden“ (Jörke / Veith 2017, 69).
- Die Konflikte, die Rechtspopulist*innen meinen auszumachen, „finden nicht […] zwischen einzelnen Nationen, sondern zwischen Kulturen statt“ (Priester 2016, 546).
- Es gibt ein „Kernland“, eine „Heimat“, ein „Vaterland“, es „richtet sich nach innen und schließt dämonisierte ‚Andere‘ aus“ (Wodak 2016, 44).
- Es wird eine „Rhetorik der Ausgrenzung“ betrieben nach dem Motto „ ‚Wir‘ (das Abendland oder christliche Europa) müssen ‚Uns‘ gegen ‚Die‘ (den Orient: Roma, Juden, Muslime) verteidigen“ (ebd., 40).
In diesen Merkmalen sind wesentliche Kennzeichen der Stammtischparolen enthalten: die Konstruktion eines homogenen, „anständigen Volk[es]“ (Mudde / Kaltwasser 2019, 33), das inkludierende „Wir“ im Gegensatz zum exkludierenden „Die“ sowie das Gegenüber von Volk und Elite.
Man sollte sich allerdings vor der Meinung hüten, dass man dabei nur dumpfe Sprüche präsentiert bekäme. Seit dem Aufkommen der sich bürgerlich und intellektuell gebenden „Neuen Rechten“ (Hufer 2018) hat sich auch der Sprachgebrauch geändert. Was von dieser Seite rhetorisch ins Feld geführt wird, wirkt differenzierter, weniger aggressiv – zumindest vordergründig. Bei genauer Betrachtung aber ist die Kernbotschaft die gleiche wie bei den unverhohlenen Stammtischsprüchen: Hier wie dort geht es um Ausgrenzung und Abgrenzung, um Höherwertigkeit und Minderwertigkeit, um Homogenisierung der Nation oder Ethnie.
Die Vordenker der Neuen Rechten setzen die Strategie der Begriffsokkupation ein, indem sie zentrale Schlüsselwörter ins Spiel bringen. Diese werden ideologisch passend umgedeutet, was im neurechten Sprachgebrauch als Teil einer „Metapolitik“ verstanden wird. Ein Zitat aus dem „Staatspolitischen Handbuch“ des weit rechten Antaios-Verlags zeigt, worum es geht: Es „bleibt unbestreitbar, daß nur die ‚Besetzung‘ von Begriffen und der Zugriff auf die Meinungsträger in einer modernen Gesellschaft erlauben, jenes Gesamt an Vorstellungen zu beeinflussen, das der Mehrheit als selbstverständlich gilt und insofern einen eminenten Einfluß auf die Politik nimmt“ (Lehnert / Weißmann 2009, 101 f.).
Ein Beispiel: „Heimat“. Der metapolitischen Deutung entsprechend, setzt Heimat „Dauer und Homogenität der Gemeinschaft und ihres Lebensraums voraus“ (ebd., 76). Im Gegensatz zu dieser exkludierenden Zuschreibung ist in einer offenen Zivilgesellschaft Heimat kein Ausschlussprinzip. In ihrer Öffnung für die Zukunft muss Heimat immer neu verhandelt werden.
Ein weiteres Beispiel ist der Begriff „Raum“. Aus rechter Sicht sollte dieser gegen „Eindringlinge“ geschützt werden (ebd., 124). Zwei führende Vertreter der Identitären Bewegung stellen kategorisch klar: „Die Bindung des Volkes an einen bestimmten Raum scheint […] unhintergehbar“ (Sellner / Spatz 2015, 32). Volk und Raum gehören hier zusammen, die sprachliche Annäherung an das Nazi-Schlagwort „Volk ohne Raum“ wird kein Zufall sein. Die liberale und demokratische Position dagegen setzt Raum nicht mit Volk, sondern mit Öffentlichkeit gleich. Es ist ein diskursiver, offen zugänglicher Raum, den alle gleichberechtigt und in wechselseitiger Anerkennung betreten und in dem sie sich kommunikativ aufeinander beziehen können.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz ordnet die Identitäre Bewegung Deutschlands (IBD) als eine rechtsextreme Organisation ein, deren Ideologie im Widerspruch zum Grundgesetz (GG) steht:
„Für die IBD ist nämlich die ethnische Herkunft allein maßgeblich für die Zugehörigkeit zum deutschen Volk und letztlich für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit. Damit bringt sie einen exkludierenden Biologismus zum Ausdruck, der den Wertungen des Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 S. 1 GG zuwiderläuft. Zugleich liegt hierin ein Verstoß gegen den Kern des Demokratieprinzips. Denn aufgrund der Rückbindung aller Staatsgewalt an das Volk (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) hätte die ethnische Definition des Volkes zwingend den Ausschluss derjenigen, die diesem Volk aus ethnischen Gründen nicht angehören, aus dem demokratischen Prozess zur Folge.“
(Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 2020, 91)
Megatrends, die das Leben bestimmen
Die Erklärungen für den Erfolg des Rechtspopulismus und die Verbreitung der von seinen Protagonist*innen verkündeten Parolen sind vielfältig. Als Gründe werden genannt: Prozesse der Modernisierung, Entfremdung von den etablierten Parteien, die Verbreitung internetbasierter Medien und Kommunikation, Zerfall der Öffentlichkeit, neoliberale Politikkonzepte, soziale Spaltung in der Gesellschaft, die Ängste der vom Abstieg bedrohten Mittelschichten etc.
Hinzu kommen Megatrends, die die Gesellschaft verändern, wie Individualisierung und Globalisierung, verbunden mit Empfindungen von Entfremdung und Identitätsverlust. Diese beiden Megatrends sind ein Grund für die Präsenz von Stammtischparolen im Alltag. Mit ihrer Beschreibung wird das deutlich:
Individualisierung heißt Loslösung aus den traditionellen Zugehörigkeiten zu Klassen, Schichten und Rollenbildern. Die Gesellschaften, zumindest die der Industrienationen, zeigen und fordern Mobilität und Flexibilität. Das kann – für diejenigen, die die Ressourcen dazu besitzen – als Befreiung aus überbrachten, oftmals engen und rigiden Bindungen und Milieus verstanden werden. Der Prozess hat aber auch eine Kehrseite, z. B. wie Ulrich Beck vermerkt, den „Verlust an traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitenden Normen […]“ (Beck 1986, 206). Die Folgen für die Menschen in der individualisierten Gesellschaft sind erheblich: „Für das Individuum wird die Selbsterfahrung realer als seine Erfahrung der objektiven sozialen Welt. Es sucht deshalb seinen ‚Halt‘ in der Wirklichkeit mehr in sich selbst als außerhalb seiner selbst“ (Berger / Berger / Kellner 1987, 71). Das führt – so Berger, Berger und Kellner in ihrem zum Klassiker gewordenen Buch „Das Unbehagen in der Modernität“ – zu einer „permanenten Identitätskrise“ (ebd.). Der Grund: „Die pluralistischen Strukturen der modernen Gesellschaft haben das Leben von immer mehr Menschen nomadisch monadisch, ständig wechselnd, mobil gemacht“ (ebd., 159). Zum Ausdruck des modernen sozialen Lebens ist „Heimatlosigkeit“ geworden (ebd., 159, 184). Das ist der Befund aus der Mitte der 1980er Jahre, der aber auch 35 Jahre später die allgemeine Gemütslage treffend beschreibt.
Aktuell hat die Transformation der Gesellschaft noch weitreichendere Folgen. In seinem viel gelobten Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ konstatiert Andreas Reckwitz, dass es jetzt um mehr geht als um „Selbständigkeit und Selbstoptimierung“, nämlich um ein „komplizierte[s] Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit“ (Reckwitz 2018, 9). Damit vollzieht sich „ein gesellschaftlicher Strukturwandel, der darin besteht, dass die soziale Logik des Allgemeinen ihre Vorherrschaft verliert an die soziale Logik des Besonderen“ (ebd., 11). Die Folge ist eine Kultivierung des Selbst, womit sich auch die Sicht auf die Welt und die Politik subjektiviert.
Bei diesem Befund stellt sich die Frage, wie und von wem in einer solchen Gesellschaft noch das „allgemein Verbindliche“, der alle Mitglieder verbindende Konsens, das „Allgemeinwohl“ angestrebt oder gar realisiert werden kann. Reckwitz interpretiert die von ihm beschriebene Entwicklung als eine „Krise des Allgemeinen […], in die eine Gesellschaft hineingerät, die sich radikal am Besonderen ausrichtet“ (ebd., 435).
Für das Bestehen einer Demokratie aber ist es konstitutiv, dass ihre Mitglieder Empathie, wechselseitige Anerkennung, gegenseitige Solidarität und Interesse an öffentlichen Belangen zeigen. Das sind jedoch Begriffe, die im Widerspruch stehen zu einer völlig individualisierten oder singularisierten Gesellschaft und dem Streben nach Selbstverwirklichung oder Inszenierung der Einzigartigkeit.
Globalisierung meint „Vernetzung über Grenzen hinweg. Globalisierung ist ein Prozess, in dem ‚Ereignisse in einem Teil der Welt zunehmend Gesellschaften und Problembereiche in anderen Teilen der Welt berühren‘ (Wichard Woyke)“ (Meinert / Stollt 2020). Grenzen, die natürlichen und die staatlichen, werden dabei unbedeutend. Die Entfernungen schwinden, das Ferne wird nah, Ereignisse, die das eigene Leben berühren, haben oft eine weit entfernte Ursache. Umgekehrt bestimmt auch das Nahe das Ferne. Die entscheidenden Antriebskräfte der Globalisierung sind ökonomische Verschränkungen und Interessen. Was daraus geworden ist, hat Jürgen Habermas eingängig beschrieben:
„Der Markt nötigt alle Unternehmer, Investoren und Verbraucher zum gewinnorientierten Kalkül der Nutzenmaximierung, der Sport nötigt alle Athleten zum Wettbewerb um messbare körperliche Höchstleistungen und das Wissenschaftssystem alle Forscher zum Reputationsgewinn über die Publikation neuer, nach denselben Standards evaluierter Ergebnisse – ob nun in Europa, Afrika, Asien oder Amerika. Nach diesen ‚Systemlogiken‘ vollzieht sich die Globalisierung der Märkte, die Bürokratisierung der staatlichen Verwaltungen, die Organisation der Massenerziehung, die Urbanisierung des Wohnens, die technische Ausstattung der medizinischen Versorgung insgesamt als die fortschreitende Inklusion der Bevölkerung in die Infrastruktur einer hochmobilen, beschleunigt individualisierten Gesellschaft“ (Habermas 2019, 117).
Diese Beschreibung belegt, welche Konsequenzen der Prozess der Globalisierung für das gesamte Leben hat: Vorrangig zählen die ökonomische Verwertbarkeit, die Standardisierbarkeit und Messbarkeit allen Handelns. Dabei gleicht sich die Welt immer mehr; zwei Beispiele, die jede*r kennt: McDonald‘s ist überall, dafür verschwindet das Traditionsgasthaus, Amazon verdrängt den örtlichen Buchhändler. Über das Internet und die „sozialen“ Plattformen werden zigfach Deutungen und Erklärungen der Welt und des Lebens in Umlauf gebracht, hinter denen nicht mehr erkennbare Interessen stehen. Das Leben aller wird dadurch bestimmt. Dabei erscheinen die eigenen politischen Handlungsmöglichkeiten nicht mehr als relevant, die Konsequenz ist Fatalismus. Dieser äußert sich in der an den Stammtischen vielfach gehörten Behauptung, dass „man sowieso nichts ändern kann“.
Das erscheint widersprüchlich zum gleichzeitigen Prozess der Individualisierung, ergibt sich aber aus diesem konsequent. Es muss immer neu gedacht und entschieden werden, dabei können die Umstände und Folgen oft nicht mehr abgeschätzt werden. Dafür ist das gesamte System hochgradig vernetzt und interdependent aufeinander bezogen. Gleichzeitig wird die Dynamik des Wandels immer schneller. Es begegnen sich Menschen, die sich vor 50 oder 60 Jahren nie getroffen hätten. Dabei stellen sich eminente Fragen und Herausforderungen für Politik, Gesellschaft und Kultur: Wie zivilisierend und wechselseitig anerkennend gestaltet sich die Begegnung zwischen „angestammten“ und neu hinzugekommenen und -kommenden Menschen? Welche Rolle spielen Ängste und Vorurteile, wie wirken sich diese politisch und im Alltag aus? Wie können die internationalen und globalen Vereinbarungen und Verflechtungen einsichtig gemacht werden? Welche Werte und Regeln sind in einer individualisierten Gesellschaft und globalisierten Welt unverzichtbar und nicht zu verhandeln? Welche allgemein anerkannten Institutionen oder Organisationen können sie wirkungsmächtig einfordern? Wie ist umzugehen mit dem Gefühl individueller Ohnmacht in diesem weltweiten Prozess? Welche Verantwortung, ja Schuld haben diejenigen, die in den reichen Ländern des Nordens insgesamt gut leben, gegenüber den Menschen in den südlichen Regionen der Erde, denen sie mit ihrem Lebensstil die Lebensgrundlagen entziehen? Wird diese Verantwortung überhaupt erkannt und übernommen?
Wir erleben die „atemberaubende […] Beschleunigung einer soziokulturellen Evolution, die heute als unaufhaltsame Umwälzung der alltäglichen Lebensverhältnisse erfahren wird und regressive Antworten auslöst“ (ebd., 145).
Die Stammtischparolen sind Beispiele dieser regressiven Antworten. Das individualisierte und globalisierte Leben ist komplex und kompliziert. Einfache Erklärungen entlasten von der Unklarheit und Ungewissheit.
3. Die tief verwurzelten Gründe
Während der Corona-Pandemie hatte jemand an einem Brunnen in der Bamberger Altstadt ein handgeschriebenes Pappschild angebracht. Darauf stand „Coronavirus heißt Judenkapitalismus“. Im Internet wurde das Coronavirus „als Probelauf für den echten Virus bezeichnet – ‚der abartigen jüdisch orthodoxen Freimaurer Sekte alias Zionisten‘ “ (Röhmel / Wolf 2020). Außerdem wurde das Gerücht in Umlauf gebracht, „die Juden“ hätten das Virus verbreitet (Leber 2020).
Die Corona-Krise verstärkte den Antisemitismus, zunehmend wurden Hass und Hetze im Netz verbreitet (Leskovar 2020).
Damit ist ein uraltes Feindbild wieder aktuell und bricht sich in aufflammendem Antisemitismus erneut Bahn: „Der Haß gegen Juden zieht sich in blutiger Spur durch das christliche Abendland, tradiert von Generation zu Generation – selbst ohne Juden“ (von Braun / Heid 1990). Im frühen Christentum galten die Juden als „Gottesmörder“, im Mittelalter als „Wucherer“, ihnen wurde „Hostienfrevel“ unterstellt. Als Mitte des 14. Jahrhunderts die Pest in Europa ausbrach, wurden sie dafür ebenfalls verantwortlich gemacht; ihnen wurde unterstellt, sie hätten die Brunnen vergiftet (Benz 2015, 17 ff.). Über die Jahrhunderte hinweg wurden Tausende von Menschen jüdischen Glaubens ermordet. Scheinbare „Begründungen“ dafür und für spätere Exzesse wie den Holocaust lieferten u. a. prominente Wissenschaftler wie der Historiker Heinrich von Treitschke (1834 – 1896). Dieser proklamierte, „die Juden sind unser Unglück“ (zit. nach ebd., 44).
In heute noch verbreiteter, unverfänglich erscheinender Literatur stößt man mitunter auf Stellen, bei denen man sich die Augen reibt. Wer hätte gedacht, dass sich in Wilhelm Buschs Geschichte von „Plisch und Plum“ diese Beschreibung eines Juden findet?
(Busch 1967, 84)„Kurz die Hose, lang der Rock,
Krumm die Nase und der Stock,
Augen schwarz und Seele grau,
Hut nach hinten, Miene schlau –
So ist Schmulchen Schievelbeiner.
(Schöner ist doch unsereiner!)“
Ein bekanntes Vorurteil wird in Reimform wiedergegeben: der krummbeinige, hässliche, verschlagene Jude. Ein bekanntes Muster wird deutlich: die Übertragung negativer Merkmale auf „die anderen“, denen das positive Eigenbild entgegengesetzt wird.
Auch in den gegenwärtigen Stammtischparolen wimmelt es von antisemitischen Legenden: „Die Juden beherrschen wieder das Kapital.“, „Juden erpressen uns mit dem Holocaust, sie wollen Kapital daraus schlagen.“ – von diesen und ähnlichen Behauptungen berichten die Teilnehmer*innen der Argumentationstrainings.
Der Historiker Theodor Mommsen (1817 – 1903) war einer der großen Gelehrten des vorletzten Jahrhunderts. Von 1879 bis 1881 gab es eine heftige Auseinandersetzung um den Antisemitismus; bekannt geworden auch als „Berliner Antisemitismusstreit“ (Hoffmann 1997). Mommsen war ein entschiedener Kritiker des Antisemitismus. Aber am Ende des Streites (1893) vertrat er die Ansicht, dass man gegen den Antisemitismus doch nichts ausrichten könne:
„Auf Argumente hört kein Antisemit. […] Sie täuschen sich, wenn Sie annehmen, dass überhaupt etwas durch Vernunft erreicht werden könnte. In den vergangenen Jahren habe ich das selbst geglaubt und fuhr fort, gegen die ungeheuerliche Niedertracht des Antisemitismus zu protestieren. Aber es ist nutzlos, völlig nutzlos. Was ich oder jemand anderes Ihnen sagen könnte, sind in letzter Linie Argumente, logische und ethische Argumente, auf die kein Antisemit hören wird. Sie hören nur ihren eigenen Hass und Neid, ihre eigenen niedrigsten Instinkte. Alles andere zählt für sie nicht. Sie sind taub für Vernunft, Recht und Moral. Man kann sie nicht beeinflussen. [...] Es ist eine fürchterliche Epidemie wie die Cholera – man kann sie weder erklären noch heilen. Man muss geduldig warten, bis das Gift sich selbst aufgezehrt und seine Virulenz verloren hat“ (Mommsen, zit. nach Horkheimer 1972, 107).
Das Warten auf ein Ende der „Epidemie“ war, wie die Geschichte zeigt, nicht das geeignete Mittel, um die schlimmen Folgen des Antisemitismus zu verhindern. Resignation, Fatalismus und intellektueller Verzicht bewegen nichts. Das gilt auch heute, wo im Zuge der Corona-Pandemie der Antisemitismus wieder hochkocht.
Stammtischparolen sind in Worte gefasste Vorurteile
Damit sind wir bei einem zentralen Grund für die Hartnäckigkeit von Stammtischparolen angekommen: die Existenz, ja, „die Gewalt des Vorurteils“ (Ahlheim 2007). Der Zusammenhang zwischen Vorurteilen und Gewalt ist – wie die Geschichte jüdischer Menschen zeigt – erschreckend plausibel.
Schon der Aufklärer Immanuel Kant hat eine wesentliche Ursache dafür genannt, warum Vorurteile zustande kommen: „Da es eben sowohl ein dummes Vorurteil ist, von vielem, das mit einigem Schein der Wahrheit erzählt wird, ohne Grund nichts zu glauben, als von dem, was das gemeine Gerücht sagt, ohne Prüfung alles zu glauben“ (Kant 1763, 23552). Das Vorurteil braucht keinen Grund, keine Prüfung – das Gerücht, d. h. etwa die durch Massenmeinung in Umlauf gebrachte Ansicht bestätigt und festigt es. Offensichtlich ist es schwierig, sich davon zu lösen – eine gegenteilige Aussage wird, auch wenn sie wahr ist, „ohne Grund“ ignoriert.
Wie tief verwurzelt Vorurteile in den Gehirnen sitzen und Menschen bei der Einschätzung der sie umgebenden Gesellschaft prägen, zeigt ein berühmt gewordenes Experiment. Dieses wurde in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA von dem amerikanischen Psychologen Gordon W. Allport (1897 – 1967) durchgeführt (Allport / Postman 1958). Er zeigte einem Auditorium ein Dia, das eine Szene in einer U-Bahn wiedergab: Ein schwarzer und ein weißer Mann stehen sich gegenüber, auf den Bänken im Waggon sitzen weitere Menschen. Der Schwarze ist mit Anzug, Krawatte und Hut bekleidet. Der Weiße trägt eine Arbeitskluft, in seinem Gürtel steckt ein messerähnliches Werkzeug. Der Weiße redet mit erhobenem Zeigefinger auf den Schwarzen ein, der hält beide Arme nach unten. Nachdem das Dia gezeigt wurde, kommt eine Versuchsperson, die das Bild nicht gesehen hat, herein und erhält 20 detaillierte Informationen über die Abbildung. Nun übermittelt diese Person das weiter, was sie gehört hat. Die so informierte zweite Versuchsperson berichtet dann einem*einer dritten Proband*in usw. Aufsehen erregend ist, was am Ende, nach mehreren hundert Durchläufen, herauskam. Denn dann hatte in über der Hälfte der Berichte der Schwarze das Messer in der Hand, in vielen Fällen bedrohte er damit den Weißen. Bei diesem Experiment und diesem Ergebnis drängt sich die Frage auf, wieso es zur völligen Umdrehung und Verzerrung des ursprünglichen Vorgangs kommen konnte. Warum werden bei der Informationsweitergabe von Versuchsperson zu Versuchsperson die Bilder so dargestellt, dass sie mit der gezeigten Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmen, sie sogar völlig auf den Kopf stellen?
Die Antwort wird darin begründet, dass wir Menschen mit Vorurteilen leben. Mehr noch: Wir brauchen unsere Vorurteile, sie schaffen „Sicherheit“ und schützen davor, sich immer wieder neu entscheiden oder gar umdenken zu müssen. Wehe, wenn sie infrage gestellt werden! Allports Experiment zeigt, dass wir alle mehr oder weniger nach dem Motto verfahren: „Wenn die Wirklichkeit mit unseren Vorstellungen nicht übereinstimmt, umso schlimmer für die Wirklichkeit.“
Stammtischparolen sind nichts anderes als in Worte gefasste Vorurteile.
Gordon W. Allport hat grundlegend über Vorurteile geforscht. Sein 1954 erschienenes Buch „Die Natur des Vorurteils“ enthält eine Fülle von Erklärungen und Fakten (Allport 1971). Vorurteile sind nach Allport durchaus charakteristisch für den Menschen und in allen Kulturen und Ländern präsent: „Kein Winkel der Welt ist frei von Gruppen-Vorurteilen. Gefesselt an unsere jeweiligen Kulturen sind wir alle [...] Bündel von Vorurteilen“ (ebd., 18). Vorurteile sind hartnäckig: Es „spricht sehr viel dafür, dass wir uns die Grundlagen unserer Vorausurteile erhalten. Es ist weniger anstrengend und, wichtiger noch, unsere Vorausurteile werden von unseren Freunden und Kollegen geteilt und unterstützt“ (ebd., 38). Vorurteile sind Vor-Urteile oder – wie sie Allport pointiert benennt – Vorausurteile. Ihre Attraktivität liegt im anheimelnden Gleichklang
mit der sozialen Umgebung begründet: „Vorurteile halten warm“ (Uthmann 1995).
Wie ist das Vorurteil zu beschreiben? „Vielleicht lautet die kürzeste aller Definitionen des Vorurteils: Von anderen ohne ausreichende Begründung schlecht denken. Diese knappe Formulierung enthält die beiden wesentlichen Elemente aller einschlägigen Definitionen: den Hinweis auf die Unbegründetheit des Urteils und den Gefühlston“ (ebd., 20).
Allport konstatiert zwar, dass es auch positive Vorurteile gibt (ebd.), aber Experimente zeigen, dass es wesentlich mehr negative, „ethnische Vorurteile“ gibt (ebd.), also Vorurteile gegen Angehörige eines Volkes oder Mitglieder einer Kultur: „Ein ethnisches Vorurteil ist eine Antipathie, die sich auf eine fehlerhafte und starre Verallgemeinerung gründet. Sie kann ausgedrückt oder auch nur gefühlt werden. Sie kann sich gegen eine Gruppe als ganze richten oder gegen ein Individuum, weil es Mitglied einer solchen Gruppe ist“ (ebd., 23).
Vorurteile sind nicht nur gedankliche Produkte und Ideengespinste. Sie werden ausagiert, und zwar durch immer stärker werdende Handlungsmöglichkeiten:
- Verleumdung
- Vermeidung (des Kontaktes)
- Diskriminierung
- Körperliche Gewaltanwendung
- Vernichtung
(ebd., 28 f.)
Nach Allport liegt eine wesentliche Ursache für das Zustandekommen von Vorurteilen in der Familienatmosphäre und dem entsprechenden Erziehungsstil: „Ohne die vorliegenden Beweise zu überdehnen, kann man annehmen, dass Kinder, die zu hart behandelt werden, zu streng bestraft oder unentwegt kritisiert werden, mehr dazu neigen, Persönlichkeiten zu entwickeln, bei denen Gruppenvorurteile eine herausragende Rolle spielen. Entsprechend entwickeln Kinder aus entspannten und sicheren Elternhäusern, die liberal und liebevoll erzogen wurden, wahrscheinlich mehr Toleranz“ (ebd., 306).
Vorurteile sind also nicht „naturgegebene“, sondern erlernte und erworbene Denkmuster: „Kein Kind wird mit Vorurteilen geboren. Seine Vorurteile sind immer erworben“ (ebd., 329).
Das gibt Hoffnung für ein Dagegenhalten bei Stammtischparolen. Denn wenn Vorurteile anerzogen oder erlernt worden sind, dann können sie sicherlich auch „verlernt“ werden. Wenn Vorurteile in bestimmten sozialen Strukturen gebildet werden, dann können sie auch durch andere soziale Begegnungen irritiert und erschüttert werden. Diese Vermutung wird von Allport gestützt, denn er legt Ergebnisse von Untersuchungen vor, mit denen er beweist, „dass Bekanntschaften mit Mitgliedern und Wissen über Minderheiten tolerante und freundliche Einstellungen verstärken“ (ebd., 273). Begegnungen und Kontakte mit Angehörigen der Gruppen, die mit Vorurteilen belegt sind, „erzeugen ein besseres Wissen über Minderheiten und können so zur Verminderung von Vorurteilen beitragen“ (ebd.). Somit können auch Stammtischparolen, die ja in Worte gefasste und zum Ausdruck gebrachte Vorurteile sind, infrage gestellt oder gar erschüttert werden.
Und noch eine Erkenntnis Allports gibt den Optimist*innen Auftrieb, die sich mit Informationen und Argumenten wappnen, um sie den Parolenvertreter*innen entgegenzuhalten: „Wir müssen zugeben, dass die reine Information weder die Einstellung noch das Verhalten notwendig verändert. [...] Zugleich haben wir keinerlei Beweise, dass gute Tatsacheninformation in irgendeiner Weise schadet. Vielleicht braucht ihre Wirkung längere Zeit und treibt doch langsam Keile von Zweifel und Unbehagen in die Stereotype des Vorurteilsbehafteten. [...] Tatsachen sind vielleicht nicht genug, aber dennoch sind sie unentbehrlich“ (ebd., 483).
Wem Stammtischparolen nützen
Während Allport von der „Natur des Vorurteils“ schreibt – ohne dabei soziale Ursachen wie z. B. die Erziehung zu übersehen –, richtet Max Horkheimer (1895 – 1973) den Blick darauf, wie der Alltag und die „Zivilisation“ Vorurteile entstehen lassen. Im Jahr 1961 hatte er in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ einen Beitrag veröffentlicht, der anschließend häufig zitiert und diskutiert wurde (Horkheimer 1972). Der Ausgangspunkt:
„Die Verhaltensweisen der Individuen in den Situationen des Alltags haben aufgrund von bruchstückhaftem Wissen sich eingeschliffen, sind Reaktionen aus Vorurteilen. Im Dschungel der Zivilisation reichen angeborene Instinkte noch weniger aus als im Urwald. Ohne die Maschinerie der Vorurteile könnte einer nicht über die Straße gehen, geschweige denn einen Kunden bedienen“ (ebd., 103).
Das Vorurteil kann jedoch eine Verbindung eingehen mit „dunkleren Trieben“: „Machtgier, Neid, Grausamkeit“ (ebd., 104). Da die Zivilisation von Kindheit an Anpassung verlangt, fordert sie auch „die schmerzhafte Bewältigung chaotischer Regungen“ (ebd.). Das Vorurteil erhält so eine Funktion. Das „Vorurteil des Hasses“ gestattet es dem Menschen, „schlecht zu sein und sich dabei für gut zu halten“ (ebd.). Hier kommen die Aufwiegler*innen, Verleumder*innen und Brandstifter*innen ins Spiel: „Zum Geschäft der Demagogen gehört es, edle Lösungen zu finden, die zugleich der Feindschaft ein Objekt versprechen. Von den kleinen Gerüchtemachern, die im Namen des Anstands und der Solidarität das Komplott gegen Neger und Fremde anzetteln, bis hinauf zu den planvoll ungebärdigen Führern, die das Vorurteil durch Hass zur explosiven Gemeinschaft zusammenschweißen, zieht sich die Reihe der Agenten des Unheils, die den Anfälligen den gewünschten Vorwand liefern“ (ebd.). Was so an Gerüchten und Bezichtigungen geschürt werden kann, „ist vielen recht, vor allem, wenn zur seelischen Verbitterung ein wirtschaftlicher Rückgang kommt. Natur erzeugt den Kollektivhass nicht“ (ebd., 105).
Der von Horkheimer beschriebene Mensch ist in die Zivilisation eingebunden, seine aggressiven, durch Anpassungszwänge etc. hervorgerufenen Tendenzen werden in negative Vorurteile übergeführt. Sie entlasten und bauen auf, bieten eine Entschädigung für die ständigen Anpassungsleistungen und Ängste, für die Konditionierungen und das Kleinmachen.
Folgt man Horkheimer, dann haben die Stammtischparolen einen Grund, der in die psychische und soziale Verflochtenheit der Gesellschaft hineinführt.
Doch wie kann gegen eine so tief verwurzelte Vorurteilsstruktur noch argumentiert werden? Horkheimer macht da wenig Hoffnungen: „Gegen die starren Vorurteile zu argumentieren, ist eitel. Sie degradieren den einzelnen dazu, in dem Allgemeinbegriff, unter den sie ihn befassen, als autonomes Wesen unterzugehen, und die Sätze, die den Allgemeinbegriff bestimmen, stehen fest: ,Das ist ein Jude‘, ,Das ist ein Zigeuner‘, ,Die Art kennen wir‘, ,Jeder Deutsche ist ein Nazi‘, ,Den Amerikanern fehlt die tiefere Kultur‘. Das Tor ist geschlossen gegen alles, was der andere auszudrücken vermag. Er gilt nicht mehr als ein Wesen, mit dem umzugehen und zu sprechen vielleicht ein Vehikel der Wahrheit ist“ (ebd., 106).
Und: „Wenn die Wahrheit das Ziel ist, dem das Denken, wie einst Kant es meinte, in unendlichem Prozeß sich nähern soll, hat es im verhärteten Urteil ihr schwerstes Hindernis“ (ebd., 108).
Horkheimers Analyse lässt sich in den folgenden Kernaussagen zusammenfassen; gleichzeitig ergeben sich – entgegen seinem Pessimismus – Handlungsmöglichkeiten:
- Vorurteile sind nicht naturgegeben.
- Vorurteile sind gesellschaftsbedingt.
- Aber auch die Gesellschaft ist nicht von einer „höheren Gewalt“, etwa von „der Natur“, in die Welt gesetzt worden. An ihrem Zustandekommen und ihren Konventionen und Gepflogenheiten, ihren Ideologien und vorherrschenden Denkmustern sind Menschen beteiligt.
- Einsprüche in der Öffentlichkeit sind Bestandteile der sozialen Kommunikation und Verständigung der Mitglieder „der Gesellschaft“. Sie wirken mit im Kräfteparallelogramm der öffentlichen Meinung; jede*r kann da einen Teil beitragen.
- Vorurteile und Stammtischparolen sind nicht nur auf der Ebene der Rhetorik, der Meinung und der persönlichen Befindlichkeit zu betrachten. Sie geben Aufschluss über die auch (partei-)politisch und demagogisch genutzte oder nutzbare Aggressivität der Menschen in einer Gesellschaft.
- Vorurteile und Sprüche fordern auf zur politischen Bewertung und Reaktion.
- Da Vorurteile eine „Tiefenstruktur“ haben, folgt: Befreie dich von Allmachtsfantasien, eine einzelne Intervention hebelt wohl kaum lange vorher entstandene und durch komplexe Vorgänge verankerte Vorurteile auf. (Diese Einsicht kann übrigens sehr entlastend sein.)
Neuere Untersuchungen bestätigen Horkheimers frühe Erkenntnis: „Wir sind durchdrungen von den vorherrschenden Einstellungen in unserer Kultur“ (Banaji / Greenwald 2015, 88). Doch obwohl damit das Unterbewusstsein von Menschen von Vorurteilen und stereotypen Meinungen okkupiert wird, besteht ausreichend Hoffnung auf die Wirkung einer gegenteiligen Vernunft: „Das reflektierte, bewusste Denken – ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen – ist durchaus in der Lage, Automatismen zu korrigieren. Es bezieht seine Kraft aus der Fähigkeit, sich selbst zu beobachten und das eigene Handeln anhand der gewonnenen Selbsterkenntnis bewusst zu steuern“ (ebd., 91). Das gilt für die eigenen Einstellungen, lässt aber den Optimismus zu, dass rationale und plausible Argumente auch bei anderen wirken können.
Wie neue Informationen abgewehrt oder angenommen werden
Eine andere erkenntnisreiche Information liefert die „Theorie der kognitiven Dissonanz“ des US-amerikanischen Sozialpsychologen Leon Festinger (1919 – 1989) (Festinger 1978).
Er beschäftigte sich damit, wie Menschen reagieren, wenn sie mit Widersprüchen zu ihren bisherigen Meinungen konfrontiert werden. Wie verarbeiten sie gegenteilige Informationen, Ansichten und Meinungen?
Ausgangspunkt ist die im Alltag aller nachvollziehbare Feststellung, dass eine Nachricht, Information oder Argumentation, die im Widerspruch steht zu einer eigenen Erkenntnis, Unruhe schafft und zunächst abgewehrt wird. Denn sie bewirkt, wie Festinger es nennt, eine kognitive Dissonanz. Eine Dissonanz ist „psychologisch unangenehm“ (ebd., 16), sie erzeugt einen Druck. Daher wird eine Person bestrebt sein, sie zu reduzieren. Das kann dadurch geschehen, dass sie versucht, „aktiv Situationen und Informationen [zu] vermeiden, die möglicherweise die Dissonanz erhöhen könnten“ (ebd.). Die Person sucht dann nach Informationen, die mit der bereits eingenommenen Haltung bzw. Einstellung übereinstimmen.
Wie Festinger herausgefunden hat, gibt es eine Reihe von Strategien, um Dissonanz zu vermeiden: „Besteht Dissonanz, so werden Personen imstande sein, sich dem Einfluss der dissonanzverstärkenden Information, auch wenn sie ihnen forcierterweise ausgesetzt sind, durch verschiedene Mittel, wie z. B. Fehlwahrnehmung, Infragestellung ihrer Gültigkeit und dergleichen, zu entziehen“ (ebd., 175).
„Mit Sicherheit“ (ebd., 177) entsteht eine kognitive Dissonanz, wenn in einer Gruppe über Streitfragen und Ansichten unterschiedliche Meinungen vorhanden sind. Wie stark dieses spannungsvolle Gefühl der Unstimmigkeit ist, hängt auch davon ab, wie groß die Anzahl derjenigen ist, von denen man weiß, dass sie mit der selbst vertretenen Meinung übereinstimmen. Sind es viele, ist die Stärke der Dissonanz relativ gering. Auch „die Attraktivität der Person, mit welcher Nichtübereinstimmung besteht, oder die der Gruppe, in der sie geäußert wird“ (ebd., 180), beeinflussen die Stärke der Dissonanz. Festinger hat herausgefunden, „dass in Gruppen mit hoher Attraktivität häufiger Änderungen der Meinung vorgenommen wurden als in Gruppen mit geringer Attraktivität“ (ebd., 184). Daher wird „eine Person bei Vorhandensein von Dissonanz häufig versuchen [...], für die Meinung, die sie beizubehalten wünscht, soziale Unterstützung zu erhalten. Erhält sie soziale Unterstützung, wird die Dissonanz entscheidend reduziert und vielleicht sogar beseitigt werden“ (ebd., 190).
Wie diese Dissonanzvermeidungsstrategie aussehen kann, soll am Beispiel einer Stammtischparole gezeigt werden:
Aussage: „Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg.“
Dissonanzerzeugende Information: „Das stimmt nicht. Ich zitiere die Bundesagentur für Arbeit: ,Die Arbeitslosenquote, bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen, belief sich im Mai 2019 für Ausländer auf 11,9 % und für Deutsche auf 4,0 %. […] Die Arbeitslosenquote der Ausländer ist drei Mal so hoch wie die der Deutschen. Da Ausländer im Durchschnitt eine geringere Qualifikation aufweisen, haben sie schlechtere Arbeitsmarktchancen als Deutsche‘ (Bundesagentur für Arbeit 2019). Wie passt das mit der Behauptung zusammen, die Ausländer würden den Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen?“
Dissonanzvermeidung 1: Abwehr „Hast du diese Statistik dabei?“
Dissonanzvermeidung 2: Infragestellen der Glaubwürdigkeit „Ja, ja, trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast …“
Dissonanzvermeidung 3: Gegenbeweise „Ich habe andere Zahlen gelesen, ich werde sie zu Hause suchen.“
Dissonanzvermeidung 4: Bündnispartner*innen suchen „Ihr seid doch auch meiner Meinung, Egon, Hans, Jessica ...“ (Es ist mitentscheidend, ob Bündnispartner*innen gefunden werden oder nicht.)
Dissonanzvermeidung 5: Änderung der Einstellung „Bist du da ganz sicher, das habe ich nicht gewusst. Ich werde darüber nachdenken. Vielleicht muss ich meine Meinung korrigieren.“
Dissonanzverstärkende Intervention „Hannah und Lorenz, ihr wart doch neulich der gleichen Meinung wie ich. Was sagt ihr zu unserem Gespräch?“
Der fünfte Fall wäre der ideale – der Widerspruch hätte gefruchtet, zumindest zur Überprüfung festgefahrener Meinungen veranlasst. Aber eher ist aufgrund der Erkenntnisse Festingers anzunehmen, dass eine starre und rigide Meinung beibehalten wird, dass Wege gesucht (und gefunden) werden, eventuell aufkommende Verunsicherungen durch Dissonanzen gar nicht erst zuzulassen. Je fester und abgeschotteter eine Meinung ist, desto weniger kann sie verunsichert und dissonant werden.
Also stehen die Chancen schlecht, Parolenmeinungen zu erschüttern bzw. infrage zu stellen? Das trifft vor allem dann zu, wenn nur versucht wird, sie lediglich mit gegenteiligen Informationen zu konfrontieren. Günstiger und mit Aussicht auf mehr Erfolg stellt sich die Situation aber dar, wenn es gelingt, die soziale und verbale Unterstützung der Parolenverkünder*innen gering zu halten. Daher sei noch einmal daran erinnert, dass auch von widersprechender Seite Beistand und Zustimmung organisiert werden sollten – so wie im vorgestellten Beispiel.
Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die vorgestellten „Klassiker“ der Vorurteilsforschung und der Theorie der kognitiven Dissonanz zeigen sowohl die Grenzen als auch die Möglichkeiten auf, wenn man mit schwer erträglichen Vorurteilen und starren Meinungen konfrontiert wird. Die Grenze: Vorurteile und daraus abgeleitete rigide, negative, diskreditierende oder diskriminierende Bewertungen sind im Laufe eines Lebens erworben und durch die selektive Suche nach Bestätigungen gefestigt worden. Die Voraussetzung, sie infrage zu stellen oder gar zu revidieren, wäre die Fähigkeit, Widersprüche zu akzeptieren und auszuhalten, also Ambiguitätstoleranz (die Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeiten leben zu können). Diese haben Menschen mit festen, geschlossenen, autoritären Einstellungen und Weltbildern in der Regel nicht. Aber: „Jede Demokratie ist auf ein relativ hohes Maß an Ambiguitätstoleranz angewiesen“ (Bauer 2018, 84).
Chancen und Möglichkeiten: Stammtischparolen und die dahinterstehenden Haltungen sind nicht angeboren, sie sind kein unwiderrufliches Schicksal. Sie sind in der frühen Sozialisation oder in der weiteren Biografie „erlernt“ worden. Wie bereits gesagt: Was erlernt worden ist, kann auch wieder „verlernt“ werden. Und „lebenslang“ kann Neues gelernt werden. Das geht aber nicht mit Belehrung oder Konfrontation, sondern damit, neue Erfahrungen und Lernmöglichkeiten aufzuzeigen. Auch bei der Einschätzung, wie erfolgreich der Widerspruch zu den Parolen ist, gilt der immer wieder zitierte Satz von Horst Siebert: „Erwachsene sind lernfähig, aber (meist) unbelehrbar“ (Siebert 2015, 91).
4. Wie ein Training gestaltet werden sollte
Wenn man ein Argumentationstraining gegen Stammtischparolen durchführen möchte, sollte man sich zunächst ins Bewusstsein rufen, was ein Argumentationstraining überhaupt ist: Es ist eine Art Werkstatt, quasi ein Labor, eine offene Lernsituation. Das Lernen geschieht hier nicht durch Belehrung, sondern durch das gemeinsame Üben, die simulierte (spielerische) und verbale Auseinandersetzung der Beteiligten mit der Realität und durch das Nachdenken und Bewerten dessen, was man im Training erlebt. Vor allem wird erwogen, inwieweit dies mit der Wirklichkeit außerhalb des Workshops übereinstimmt und wie die erkannten und erprobten Verhaltensweisen – mit der Hoffnung auf Erfolg und mit gestärktem Selbstbewusstsein – dort eingesetzt werden können. In einem Argumentationstraining bekommen die Teilnehmer*innen zwar auch Informationen und Wissen durch die Workshop-Leitung geliefert, aber Vorrang haben die mitgebrachten Erfahrungen, das gemeinsame Ausprobieren und die daraus gezogenen Schlüsse. Der Lernweg und das Lernziel sind durch den Gruppenprozess bestimmt, daran sind alle beteiligt.
Das Argumentationstraining gegen Stammtischparolen ist ein Sonderfall eines Argumentationstrainings, indem es sich um eine Auseinandersetzung mit konflikthaften Begegnungen handelt, die eine politische Brisanz haben.
In diesem Argumentationstraining findet – von allen zusammen initiiert und entwickelt – politische Bildung statt. Dabei werden auch rhetorische Fähigkeiten erlernt und geübt, aber es ist kein inhaltsleeres Rhetoriktraining. Auch wird die Selbstsicherheit der Teilnehmer*innen gestärkt, aber es ist kein individualisierendes Seminar zur Selbsterfahrung.
Bisher bin ich von vielen und diversen Organisationen, Institutionen und Initiativen zu Argumentationstrainings gegen Stammtischparolen eingeladen worden und habe diese in einem unterschiedlichen zeitlichen Umfang (Abend-, Halbtages-, Zweitagesund Wochen-Veranstaltung) durchgeführt. Zudem stehe ich in einem ständigen Erfahrungsaustausch mit anderen Trainer*innen. Das Argumentationstraining gegen Stammtischparolen hat eine breite und solide fundierte fachliche Basis.*
* www.argumentationstraining-gegen-stammtischparolen.de/ (Öffnet in einem neuen Tab)
Die Motive zur Teilnahme
Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung und den Mitteilungen der Workshop- Teilnehmer*innen zufolge kann ich begründen, was häufige Motive für den Veranstaltungsbesuch sind. Ein wesentlicher Grund ist die empfundene Ohnmacht und Überforderung angesichts
a) einer zunehmenden Informationsfülle und
b) grober Vereinfachungen.
Das heißt: Die plötzliche Konfrontation mit einer Parole müsste auf ihre gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen hin erkannt werden, gegebenenfalls müsste ein entschiedenes „Stopp“, besser noch eine gekonnte Reaktion folgen. Dabei ist man aber oftmals in mehrfacher Hinsicht blockiert. Man müsste einordnen, bewerten, sich positionieren, überzeugend reagieren – und das alles möglichst schnell. In den Vorstellungsrunden zu Beginn der Workshops wird immer wieder mitgeteilt, dass das kaum möglich sei. Daher werden folgende Erwartungen geäußert: Am Ende des Workshops möchte man schlagfertig sein und gute Argumente haben.
Wichtig für die Workshopleitung ist, diese Erwartungen zu relativieren (ohne die Teilnehmer*innen aber zu desillusionieren): Es geht nicht um Schlagfertigkeit (allein der Begriff signalisiert Kampf und Überlegenheit), sondern um Standfestigkeit und im besten Fall um Verständigung. Auch ist die Überzeugungskraft von Argumenten nicht sofort erkennbar. Denn, wie eine Kommentatorin unserer Trainings einmal zusammenfasste, wird man das, was man ohne gute Argumente glaubt, auch nicht mit guten Argumenten infrage stellen. Wie wir im vorausgegangenen Kapitel gesehen haben, sind Vorurteile nicht ohne Weiteres auszuhebeln. Aber dennoch sind Informationen, sind Wissen und daraus folgende Argumente unverzichtbar. Denn sie geben Sicherheit beim Widerspruch zur Parole.
Die anfänglichen Äußerungen der Teilnehmer*innen zeigen, dass das Spektrum der Motive und Erwartungen groß ist: Neben dem Interesse an politischen Informationen stehen das Bedürfnis nach Selbstsicherheit und emotionaler Kontrolle, der Wunsch, Dissonanzen (= Unstimmigkeiten, auch Spannungen) aushalten zu können, die Frage, wie der eigene Standpunkt am geschicktesten vertreten werden kann, die Hoffnung, Einblicke in die Technik der Rhetorik zu bekommen, und die Vorstellung, „Rüstzeug“ für ein politisches oder soziales Engagement zu erhalten.
Insgesamt sind drei große Motivbereiche festzustellen:
- ein sachlich-informativer
- ein emotional-affektiver
- ein kommunikativ-strategischer
Bei den an Fachleute gerichteten Workshops kommt ein professionell-pädagogisches Motiv hinzu.
Überlegungen vor dem Training
Ein Argumentationstraining gegen Stammtischparolen sollte mit folgenden Fragen gedanklich vorbereitet werden:
Wo findet es statt?
Es ist zu bedenken, ob die veranstaltende Institution / Organisation einen bildungspolitischen Auftrag und ein bestimmtes weltanschauliches Profil hat oder ob eine ausrichtende Initiative bzw. eine NGO ein handlungsorientiertes politisches Interesse verfolgt. Bei Klärung dieser Frage zeichnet sich bereits ab, wer kommen und wie weit das parteiliche Engagement der Teilnehmenden gehen würde. Denn es ist ein Unterschied, ob das Training beispielsweise von einer Volkshochschule (vhs) oder einer antirassistischen Initiative angeboten und durchgeführt wird. Auch regionale Besonderheiten sollten bereits vorher bedacht werden. Ein Training, das in einer großstädtischen vhs des Ruhrgebiets veranstaltet wird, bringt andere Fragen und Themen mit sich, als wenn es in einer freien Bildungseinrichtung in einem kleinen Dorf im Land Brandenburg stattfindet. Und wieder völlig anders verläuft das Training, wenn in einer Akademie am Starnberger See bayerische Lehrer*innen teilnehmen. Wiederum einen anderen Auftrag und Verlauf erhält ein Training, wenn es für die Belegschaft eines Betriebs mit der Erwartung ausgerichtet wird, vorhandene interkulturelle Spannungen zu mildern.
Welche Teilnehmer*innen werden wahrscheinlich kommen?
Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten, Adressat*innen anzusprechen: Entweder wird das Seminar offen ausgeschrieben oder es werden bestimmte Zielgruppen angesprochen (Sozialarbeiter*innen, Jugendbildungsreferent*innen, Lehrer*innen, Migrant*innen, Mitglieder eine Bürgerinitiative, Gewerkschaftler*innen, Parteimitglieder, Pressereferent*innen etc.). Im ersten Fall kann die bunte Zusammensetzung den Ablauf des Trainings positiv beeinflussen, aber es ist auch mit einer größeren Heterogenität der Teilnehmenden zu rechnen: Artikulationsgewohnte kommen ebenso wie Artikulationsgehemmte, gut Informierte sitzen neben kaum Informierten, an einer eindeutigen Politisierung Interessierte nehmen teil, zusammen mit anderen, die „nur“ sicherer auftreten bzw. ihre Redefähigkeit verbessern wollen etc.
Im zweiten Fall, wenn Angehörige spezieller Zielgruppen erscheinen, kann das professionelle Wissen unerwartete Spezialthemen und sachliche Anfragen mit sich bringen. Es kann die Tendenz mitspielen, das Training als Instrument nutzen zu wollen, um es entweder in der eigenen Arbeitssituation einsetzen zu können oder parteiliche Ziele effektiver zu vertreten.
Wie viel Zeit steht zur Verfügung?
Abzuraten ist auf jeden Fall davon, ein Argumentationstraining in einem Kursangebot – etwa an fünf, sechs oder sieben Abenden, jeweils eineinhalb Stunden lang – anzubieten. Denn ein Argumentationstraining lebt von den sich entwickelnden Gruppenprozessen und den informellen Begegnungen am Rande. Diese entfalten sich nicht, wenn nach kurzer Zeit der gemeinsame Abend schon wieder beendet ist und die Fortsetzung erst in einer Woche stattfindet. Ideal wären zwei hintereinander folgende Tage, weniger und mehr ist auch gut möglich. Das Argumentationstraining ist auch als Bildungsurlaubsveranstaltung geeignet. (Prozessverlauf und Stofferarbeitung reichen aus für ein einwöchiges Seminar.)
Wie sind die Räumlichkeiten beschaffen?
Zur Verfügung stehen sollte mindestens ein großer Raum, der ausreichend Platz bietet, die Stühle zu verstellen, Plakate (mindestens zehn, mitunter auch 20) aufzuhängen, sich zu bewegen und Arbeitsgruppen zu bilden, die parallel tätig werden können, ohne sich zu stören. (Besser wäre es, wenn auch ein oder zwei kleinere Nebenräume zur Verfügung stünden.)
Seminarleitung
Zu Beginn, am besten nach der Vorstellungsrunde, ist es angezeigt, den Verlauf des Workshops zu skizzieren. Darüber hinaus sollte die Leitung ihre Rolle und Aufgabe darlegen. Wichtig ist dabei, zu verdeutlichen, dass
- es im Trainingskontext keine „Belehrung“ gibt,
- Verlauf und Inhalt entscheidend von den Aktivitäten aller abhängig sind,
- die Gruppe Ergebnisse erarbeitet, wobei diese offen und nicht zu erzwingen sind,
- der*die Leiter*in des Workshops fachlich und methodisch versiert als „Begleiter*in“, „Lots*in “, „Moderator*in“ die Phasen des Seminarverlaufs (nicht aber die Ergebnisse der Arbeit!) lenkt,
- dem Verlauf „gegengesteuert“ werden muss, wenn z. B. eine Meinung so dominiert, dass andere Positionen nicht zum Zuge kommen, wenn Redeanteile zu einseitig vertreten sind,
- von einem verabredeten Programm abgewichen werden kann, wenn sich neue oder unerwartete Fragen ergeben sollten,
- weiterführende Informationen – etwa zum sozialpsychologischen Hintergrund und zu politischen, historischen und sozialen Fakten – bereitgehalten und bedarfsweise eingegeben werden.
Auch für das Argumentationstraining gegen Stammtischparolen gilt, was für Erwachsenenbildung insgesamt gültig ist: „Die Lernwege von erwachsenen Menschen sind nicht kausal zu konstruieren. Dafür sind die Subjekte viel zu ‚eigenwillig‘, auch in ihrer Aufnahme von zu Lernendem oder Gelerntem. Eine Belehrung funktioniert ganz und gar nicht, jede Absicht widerspräche außerdem den Grundprinzipien der außerschulischen Bildung und der Erwachsenenbildung, vor allem der Subjektorientierung. […] Daher wird die Wirkung dessen, was ‚gelernt‘ wurde, stets auch von subjektiven Voraussetzungen abhängig sein“ (Hufer 2012, 401).
Arbeitstechniken und Methoden
Das Argumentationstraining ist ein interaktives Seminar, zu dessen Durchführung differenzierte Empfehlungen vorliegen (Hufer 2016). Das Programm ist nicht standardisiert, doch unverzichtbar ist der Einsatz von Arbeitstechniken, die die Kreativität und Kommunikation der Teilnehmer*innen anregen, z. B. Brainstorming, Rollenspiel, Innenkreis-Außenkreis, Streitgespräch (Pro- und Contra-Debatte).
Brainstorming
Beim Brainstorming (engl., wörtlich „Gehirnsturm“, der Erfinder ist Alex F. Osborn) werden die Ideen einer Gruppe gesammelt. Das geschieht durch freien, spontanen Zuruf und in einer kurzen, begrenzten Zeit. Jeder Gedanke, jeder Beitrag ist erlaubt – alle werden gesammelt und visualisiert. Das wechselseitige Benennen erleichtert und befördert die Assoziationen und Artikulationen aller am Brainstorming Beteiligten. Die Atmosphäre lockert sich dabei recht schnell.
Die Regeln sind:
- Alle sind gleichermaßen berechtigt, sich zu äußern.
- Die Äußerungen sollen knapp und kurz gefasst sein.
- Die Beiträge brauchen nicht „realistisch“ zu sein – Absurdität ist erwünscht.
- Keine Idee bzw. Äußerung darf kritisiert werden.
- Nachfragen sind nicht vorgesehen.
- „Killerphrasen“ sind nicht gestattet (z. B. „Dummes Zeug“, „Stimmt nicht“, „Woher willst du das wissen?“, „Gut, aber …“ etc.).
- Niemand soll sich für seine Brainstorming-Beiträge entschuldigen („Es ist zwar nicht ganz richtig, aber ...“, „Ich weiß nicht, ob das jetzt passt, aber ...“ etc.).
- Die Vielzahl der geäußerten Beiträge ist wichtig – je mehr kommt, desto mehr kann für den weiteren Verlauf genutzt werden.
Man kann das Brainstorming entweder zeitlich begrenzen (zehn bis max. 15 Minuten) oder beenden, wenn der „Gedankensturm“ abebbt. Nach dem Brainstorming gibt es Gelegenheit zum Nachfragen und zur Klärung.
Im Argumentationstraining gegen Stammtischparolen sollte das Brainstorming in der Anfangsphase eingesetzt werden, um Parolen zu sammeln, die die Teilnehmer*innen kennen und mit denen sie konfrontiert worden sind. Diese sollen auf einem Flipchart visualisiert werden. Eine ca. 16 Personen starke Gruppe, das ist die ideale Größe eines Trainings, kommt dabei auf 40 Parolen und mehr.
Rollenspiel
Das Rollenspiel ist eine bewährte Methode in der politischen Bildungsarbeit. Der Begriff beinhaltet die beiden Substantive „Rolle“ und „Spiel“, d. h. man tritt aus seiner „normalen“ Alltagsrolle heraus und „spielt“ eine fremde Rolle. Es ist ein Spiel, und zum Wesen des Spiels gehört es, die Realitätskontrolle aufgeben zu dürfen, der Phantasie und Kreativität freien Lauf lassen zu können, ohne dabei Sanktionen befürchten zu müssen. Von besonderem Reiz ist, wenn „ein Rollenspieler*eine Rollenspielerin eine Rolle [übernimmt], in der sie oder er eine politische Position zu vertreten hat, die nicht der eigenen politischen Position entspricht. Dann erweitert sich die Möglichkeit
des Lernens um das Einfühlen in fremde Lebenssituationen, aus denen ein
anderes Denken, Fühlen und Handeln resultieren“ (Kroll 2000, 155).
Die Lernziele sind:
- „Inhalte erschließen und Erkenntnisse gewinnen;
- Informationen und Erfahrungen durch Reden und Spielen darstellen können;
- sich in die Situation und Rolle einfühlen können;
- sich mitteilen können;
- bislang ungekannte Anteile der eigenen Person bzw. bisher nicht geübte Verhaltensweisen entdecken und ‚ausspielen‘,
- ‚Probehandeln‘ üben“
(Knoll 1991, 155).
Üblich ist beim Einsatz von Rollenspielen, dass die daran Beteiligten eine Vorbereitungszeit bekommen, um sich zu überlegen, wie sie beim Spiel vorgehen und ihre Rolle vertreten sollen. Beim Argumentationstraining gegen Stammtischparolen sollte eine solche Vorbereitungszeit wegfallen, um die sich aus dem Gesprächsverlauf heraus ergebende Spontaneität der Einfälle nicht zu behindern und um so eine annähernd realistische Situation wiederzugeben. (Auch im Alltag ist man nicht auf die Auseinandersetzung mit den Parolen vorbereitet.) Das Spiel sollte nicht zu lange dauern, um es nicht zu „zerreden“ und um auch noch genügend Stoff für die anschließende Auswertung zu haben. „Die Entscheidung ‚wer spielt – wer spielt nicht‘, braucht manchmal etwas Zeit; dabei ist auf Signale des zögernden Wollens (unruhiges Sitzen, halbes Aufstehen und wieder setzen usw.) zu achten, um diese Teilnehmer rechtzeitig ermutigen zu können“ (ebd., 157).
Im Argumentationstraining gegen Stammtischparolen ist das Rollenspiel zentral für die Auseinandersetzung mit den Parolen, zur Bewertung ihrer Wirkung und für die gemeinsame Suche nach angemessenen Reaktionen und Gegenstrategien. Vorgegeben für das Rollenspiel wird eine Parole aus dem Brainstorming, am besten diejenige, mit der sich die Teilnehmer*innen am ehesten auseinandersetzen möchten. Im Rollenspiel können Gesprächsrunden in einer Kneipe, bei einer Familienfeier, Begegnungen an einem Info-Stand, bei einer Zugfahrt etc. simuliert werden. Die Positionen werden freiwillig eingenommen (nicht von der Leitung zugeteilt): Eine Gruppe spielt die Parolenvertreter*innen, eine andere die Parolengegner*innen. Das Spiel, an dem sechs Personen teilnehmen, findet in einem Innenkreis statt. In einem Außenkreis sitzen die übrigen Teilnehmer*innen und beobachten das Geschehen unter vorher genannten Gesichtspunkten:
- Welche Inhalte, Informationen und Argumente werden mitgeteilt?
- Wer hat welche Redeanteile?
- Welche rhetorischen Mittel werden eingesetzt?
- Welche Gruppendynamik ergibt sich? etc.
Das Spiel kann 20 bis 30 Minuten dauern. Anschließend wird das Erlebte und Gesehene ausgewertet und es wird nach wirkungsvollen und geeigneten Handlungsmöglichkeiten für eine Contra-Position gesucht. Nach meinen Erfahrungen dominiert in einem solchen Rollenspiel immer die Fraktion der Parolenvertreter*innen. Diese haben die längeren und größeren Redeanteile, bestimmen eindeutig den Verlauf des Gesprächs und werfen sich erheblich mehr die Bälle zu als die Spieler*innen auf der anderen Seite. Vom Außenkreis wird das in der anschließenden Beobachtung in der Regel gleich mitgeteilt. Daraus ergibt sich Stoff zum Kommentieren und Begründen. Auf dem Flipchart wird festgehalten, welche Reaktionen und Interventionen der Pro-Seite gut und wirkungsvoll waren.
Innenkreis-Außenkreis
„In ihrer Grundstruktur besteht die Methode Innenkreis-Außenkreis darin, daß eine kleine Gruppe sozusagen stellvertretend für eine Großgruppe [...] ein Thema erörtert, Ergebnisse austauscht, eine Entscheidung trifft. Dabei sitzt die Kleingruppe in der Mitte des Raumes (kleiner Stuhlkreis). Die übrige Großgruppe sitzt außen herum (großer Stuhlkreis, notfalls Tischviereck) und hört dem Gespräch im Innenkreis schweigend zu“ (ebd., 135).
Die Aufgabe ist für die Spieler*innen im Innenkreis nicht einfach, denn sie werden beobachtet (bezeichnenderweise heißt diese Methode auch „Aquarium“). Daher sollte der*die Moderator*in anfangs dabei sein, die Spieler*innen begrüßen, die Methode kurz vorstellen, damit die Rollensituation deutlich wird, und mit einer Einstiegsbemerkung das Gespräch eröffnen.
Beim Argumentationstraining gegen Stammtischparolen ist ein Innenkreis-Außenkreis gut geeignet, um die Beziehungen in einer Gruppe zu beobachten, die eine streitbare Auseinandersetzung um die Parolen simuliert.
Streitgespräch (Pro- und Contra-Debatte)
„Die Pro- und Contra-Debatte […] ist eine argumentative Auseinandersetzung, die auf einer alternativ formulierten politischen Entscheidungsfrage basiert“ (Gloe / Kuhn 2017, 577). „Das Streitgespräch ist eine inszenierte Kontroverse, in der eine politische Ja-Nein-Frage diskutiert wird. Dabei werden die Argumente für die alternativen Positionen (Pro und Contra) von den [Workshopteilnehmer*innen, KPH] zunächst erarbeitet und anschließend in einer Diskussionsrunde vertreten. Ein Moderator leitet das Streitgespräch“ (Gänger 2018, 126).
Das Streitgespräch hat eine andere Struktur und Dynamik als die Kontroverse im Rollenspiel. Vor allem liegt der Unterschied darin, dass die gegensätzlichen Positionen von der Workshopleitung benannt und beschrieben werden, wobei es selbstverständlich sein muss, dass die Teilnahme freiwillig ist. Für die Durchführung gibt es zwei Möglichkeiten: Einmal sitzen die beiden Parteien (je zwei Personen) vor
dem Plenum, das Gespräch wird von einem*einer anderen Teilnehmer*in moderiert, die Gesprächsführung kann aber auch die Leitung des Workshops übernehmen. Die andere Möglichkeit ist, dass der Veranstaltungsraum geteilt wird, in eine linke und eine rechte Hälfte. Diejenigen, die auf der einen Seite sitzen, sind die Pro-Partei, die auf der anderen die Contra-Gruppe. Als kontroverses Thema kommt eine der zu Beginn des Trainings gesammelten Stammtischparolen infrage. Das Streitgespräch soll nicht das Rollenspiel ersetzen, sondern es ist eine zweite Möglichkeit,
miteinander zu debattieren.
Text- und Filmanalysen
Weitere methodische Möglichkeiten, die das Argumentationstraining beleben, sind Text- und Filmanalysen. Ausgehändigt bzw. gezeigt werden Texte bzw. Filme oder Clips von einschlägigen populistischen Protagonist*innen. Diese findet man – leider – sehr leicht im Internet oder beispielsweise auch in den sehr weit rechten Zeitschriften
„COMPACT“ und „ZUERST!“. Beide Magazine haben Homepages, auf denen sie ihre Botschaften darstellen und mit weiterführenden Links auf andere rechtspopulistische und rechtsextreme Seiten hinweisen. Die Filmanalyse kann im Plenum, die Textanalysen sollten in Kleingruppen stattfinden.
Die Fragen zum Arbeitsauftrag:
- Welche Sprache wird eingesetzt?
- Welche Aussagen werden getroffen?
- Was haben sie gemeinsam? Sind sie logisch schlüssig?
- Was ist die Basis der Begründung?
- Was wären die Konsequenzen für die Gesellschaft und einzelne Gruppen, wenn man den Aussagen folgen würde?
- Wie sind sie zu widerlegen? etc.
Das alles sind Empfehlungen, keine Standards. Letztendlich ist ein Workshop wie dieser, der an den Interessen und Bedürfnissen der an ihm Teilnehmenden orientiert ist, in der Gestaltung offen. Welche Arbeitsmittel eingesetzt werden und in welchem Umfang das geschieht, ist abhängig vom Lernort, den Räumlichkeiten, technischen Möglichkeiten und vor allem den Wünschen und Voraussetzungen der Anwesenden.
Eine offene und entspannte Atmosphäre ist eine entscheidende Voraussetzung für den Erfolg des Argumentationstrainings. Das Feedback einer Teilnehmerin bringt es auf den Punkt: „Es war ein sehr ernstes Thema und dennoch hat es mir viel Freude gemacht, ja, wir hatten auch viel Spaß. Ich habe mich sehr wohlgefühlt und erlebt, dass die anderen, die auch da waren, genau wie ich nicht den Mund halten wollen, wenn wieder eine Parole kommt. Das hat mir Mut gemacht und ich werde nicht mehr schweigen.“
Literatur
Kapitel 1
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Hufer, Klaus-Peter: Argumente gegen Parolen und Populismus, Schwalbach / Ts. 2017.
Hufer, Klaus-Peter: Argumentationstraining gegen Stammtischparolen.
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Kapitel 2
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Kapitel 3
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Röhmel, Josef / Wolf, Sabine: Alte Feindbilder zurechtgebogen, in: tagesschau.de, 2020. Verfügbar unter [04.09.2020]: www.tagesschau.de/investigativ/br-recherche/corona-antisemitismus-101.html (Öffnet in einem neuen Tab).
Siebert, Horst: Erwachsene – lernfähig aber unbelehrbar? Was der Konstruktivismus für die politische Bildung leistet, Schwalbach / Ts. 2015.
Uthmann, Jörg von (Hrsg.): Vorurteile halten warm. Einige bescheidene Vorschläge, der Überfremdung Deutschlands zu wehren, nebst einer praktischen Anleitung für Stammtischgespräche, Hamburg 1995.
Kapitel 4
Gänger, Sven: Streitgespräch Pro / Kontra, in: Reinhardt, Sybille / Richter, Dagmar (Hrsg.): Politik-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II, 5. Aufl., Berlin 2018, S. 126–128.
Gloe, Markus / Kuhn, Hans-Werner: Die Pro-Contra-Debatte, in: Reinhardt, Volker / Lange, Dirk (Hrsg.): Basiswissen Politische Bildung. Handbuch für den sozialwissenschaftlichen Unterricht, Band 2: Forschung, Planung und Methoden Politischer Bildung, Baltmannsweiler 2017, S. 577–586.
Hufer, Klaus-Peter: Argumentationstraining gegen Stammtischparolen. Materialien und Anleitungen für Bildungsarbeit und Selbstlernen, 10. Aufl., Schwalbach / Ts. 2016.
Hufer, Klaus-Peter: Wer „lernt“ wie und warum?, in: Hufer, Klaus-Peter / Länge, Theo W. / Menke, Barbara / Overwien, Bernd / Schudoma, Laura (Hrsg.): Wissen und Können. Wege zum professionellen Handeln in der politischen Bildung, Schwalbach / Ts. 2012, S. 401–404.
Knoll, Jörg: Kurs- und Seminarmethoden. Ein Trainingsbuch zur Gestaltung von Kursen und Seminaren, Arbeits- und Gesprächskreisen, 3. Aufl., Weinheim und Basel 1991.
Kroll, Karin: Rollenspiel, in: Kuhn, Hans-Werner / Massing, Peter (Hrsg.): Lexikon der politischen Bildung, Bd. 3: Methoden und Arbeitstechniken, Schwalbach / Ts. 1999, S. 155–158.
Autor: Prof. Dr. Klaus-Peter Hufer
Klaus-Peter Hufer, Dr. rer. pol phil. habil. und apl. Professor, war von 1976 – 2015 hauptberuflich in einer VHS tätig, lehrt an der Fakultät Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen und führt bundesweit, in Österreich und der Schweiz Veranstaltungen zur politischen Bildung durch.
Eine Auswahl neuerer Bücher:
- Zivilcourage – Mut zum Widerspruch und Widerstand, Wien und Hamburg 2020
- Argumente am Stammtisch – Erfolgreich gegen Parolen, Palaver und Populismus, Schwalbach/Ts.,; 8. komplett überarbeitete und aktualisierte Auflage, Schwalbach/Ts. 2019
- Neue Rechte, altes Denken – Ideologie, Kernbegriffe und Vordenker, Weinheim und Basel 2018
- Argumente gegen Parolen und Populismus, Schwalbach/Ts. 2017
- Argumentationstraining gegen Stammtischparolen. Materialien und Anleitungen für Bildungsarbeit und Selbstlernen, Schwalbach/Ts. 2000, 10. Aufl., Schwalbach/Ts. 2016
- Politische Erwachsenenbildung. Plädoyer für eine vernachlässigte Disziplin, Bielefeld 2016, auch erschienen als Band 1787 der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2016
- Politik wagen – Ein Argumentationstraining (zusammen mit Christian Boeser-Schnebel, Karin Schnebel und Florian Wenzel) , Schwalbach/Ts. 2016
- Was soll ich tun, wie können wir handeln? - Eine Einführung in die praktische Philosophie/Ethik, Kempen 2016
- Wo steht die außerschulische politische Jugend- und Erwachsenenbildung? GPJE-Schiften zur politischen Jugendbildung, Schwalbach/Ts. (zusammen mit Tonio Oeftering und Julia Oppermann, Schwalbach/Ts. 2018
- Handbuch politische Erwachsenenbildung (zusammen mit Dirk Lange), Schwalbach/Ts. 2016
Download
Sie können die Artikelserie „Wenn die Worte fehlen - Argumente gegen Stammtischparolen“ als PDF-Datei herunterladen.
Podcast
Episode 7: (Öffnet in einem neuen Tab) Sonderfolge mit Prof. Dr. Klaus-Peter Hufer
Themen: Umsetzung von Argumentationstrainings gegen rechte Parolen, praktische Übungen zur Umsetzung mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen und Fachkräften der politischen Jugendbildung