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Deutscher Volkshochschul-Verband

Argumente gegen Stammtischparolen

Artikelserie: Wenn die Worte fehlen - Argumente gegen Stammtischparolen.
Prof. Dr. Klaus-Peter Hufer erläutert die Hintergründe für das Verhalten bei Stammtischparolen und gibt Verhaltensempfehlungen und Strategien, um diesen entgegenzutreten.

Inhalt

1. Worum es geht und was getan werden kann

Eine Frau hält ihre Hand an ihr Ohr

Es gibt Situationen, die man sich nicht ausgesucht hat, aber auf die man entschieden reagieren will. Doch das klappt nicht immer. Denn unvermutet teilt ein Gegenüber Sprüche mit oder trifft Aussagen, die den Kern der eigenen Wertvorstellungen berühren und damit im Widerspruch stehen. Vorgetragen wird das keineswegs in einer behutsamen, auf Verständigung angelegten Art und Weise. Im Gegenteil: laut, kategorisch, ultimativ und ohne Wenn und Aber wird etwas in den Raum geworfen. Es stellt sich Überraschung ein, man fühlt sich überrumpelt, es verschlägt einem im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache. Danach, wenn die Situation vorüber und die Person, von der diese Äußerung kommt, verschwunden ist, fallen dann doch die passenden Reaktionen und Antworten ein. Zu spät? Nein, man kann sich darauf vorbereiten und beim nächsten rhetorischen Überfall gewappnet sein.

2. Die Gesellschaft, aus der sie kommen

Stammtischparolen sind keine individuellen Wutausbrüche, keineswegs nur persönliche Hasskommentare oder lediglich ein Ventil, um den eigenen Frust loszuwerden. Das würde den Umgang mit ihnen zwar relativieren und erleichtern, die Lösung wäre dann allerdings, lediglich die Erregung des Gegenübers zu besänftigen, vielleicht auch einen persönlichen Therapieversuch zu unternehmen.
Das mag auch sinnvoll sein, das Problem wäre aber nicht gelöst. Stammtischparolen sind nämlich keine Einzelfälle, dafür werden sie viel zu häufig geäußert. Hinter ihnen steckt mehr: Mit ihnen zeigt sich der brodelnde Untergrund unserer Gesellschaft. Stammtischparolen demonstrieren, wie die Menschen auf die soziale, politische, ökonomische und kulturelle Situation der Gesellschaft, in der sie leben, reagieren. Mit den Parolen und Sprüchen wird das geäußert, was in weiten Teilen der Gesellschaft empfunden und gedacht wird. Sie sind ein Spiegel der bestehenden und sich verändernden Verhältnisse. Sie sind auch ein Warnzeichen dafür, wie schwankend der Boden einer zivilgesellschaftlichen Demokratie ist.

3. Die tief verwurzelten Gründe

Während der Corona-Pandemie hatte jemand an einem Brunnen in der Bamberger Altstadt ein handgeschriebenes Pappschild angebracht. Darauf stand „Coronavirus heißt Judenkapitalismus“. Im Internet wurde das Coronavirus „als Probelauf für den echten Virus bezeichnet – ‚der abartigen jüdisch orthodoxen Freimaurer Sekte alias Zionisten‘ “ (Röhmel / Wolf 2020). Außerdem wurde das Gerücht in Umlauf gebracht, „die Juden“ hätten das Virus verbreitet (Leber 2020).

Die Corona-Krise verstärkte den Antisemitismus, zunehmend wurden Hass und Hetze im Netz verbreitet (Leskovar 2020).

Damit ist ein uraltes Feindbild wieder aktuell und bricht sich in aufflammendem Antisemitismus erneut Bahn: „Der Haß gegen Juden zieht sich in blutiger Spur durch das christliche Abendland, tradiert von Generation zu Generation – selbst ohne Juden“ (von Braun / Heid 1990). Im frühen Christentum galten die Juden als „Gottesmörder“, im Mittelalter als „Wucherer“, ihnen wurde „Hostienfrevel“ unterstellt. Als Mitte des 14. Jahrhunderts die Pest in Europa ausbrach, wurden sie dafür ebenfalls verantwortlich gemacht; ihnen wurde unterstellt, sie hätten die Brunnen vergiftet (Benz 2015, 17 ff.). Über die Jahrhunderte hinweg wurden Tausende von Menschen jüdischen Glaubens ermordet. Scheinbare „Begründungen“ dafür und für spätere Exzesse wie den Holocaust lieferten u. a. prominente Wissenschaftler wie der Historiker Heinrich von Treitschke (1834 – 1896). Dieser proklamierte, „die Juden sind unser Unglück“ (zit. nach ebd., 44).

In heute noch verbreiteter, unverfänglich erscheinender Literatur stößt man mitunter auf Stellen, bei denen man sich die Augen reibt. Wer hätte gedacht, dass sich in Wilhelm Buschs Geschichte von „Plisch und Plum“ diese Beschreibung eines Juden findet?

„Kurz die Hose, lang der Rock,
Krumm die Nase und der Stock,
Augen schwarz und Seele grau,
Hut nach hinten, Miene schlau –
So ist Schmulchen Schievelbeiner.
(Schöner ist doch unsereiner!)“

(Busch 1967, 84)

Ein bekanntes Vorurteil wird in Reimform wiedergegeben: der krummbeinige, hässliche, verschlagene Jude. Ein bekanntes Muster wird deutlich: die Übertragung negativer Merkmale auf „die anderen“, denen das positive Eigenbild entgegengesetzt wird.

Auch in den gegenwärtigen Stammtischparolen wimmelt es von antisemitischen Legenden: „Die Juden beherrschen wieder das Kapital.“, „Juden erpressen uns mit dem Holocaust, sie wollen Kapital daraus schlagen.“ – von diesen und ähnlichen Behauptungen berichten die Teilnehmer*innen der Argumentationstrainings.

Der Historiker Theodor Mommsen (1817 – 1903) war einer der großen Gelehrten des vorletzten Jahrhunderts. Von 1879 bis 1881 gab es eine heftige Auseinandersetzung um den Antisemitismus; bekannt geworden auch als „Berliner Antisemitismusstreit“ (Hoffmann 1997). Mommsen war ein entschiedener Kritiker des Antisemitismus. Aber am Ende des Streites (1893) vertrat er die Ansicht, dass man gegen den Antisemitismus doch nichts ausrichten könne:

„Auf Argumente hört kein Antisemit. […] Sie täuschen sich, wenn Sie annehmen, dass überhaupt etwas durch Vernunft erreicht werden könnte. In den vergangenen Jahren habe ich das selbst geglaubt und fuhr fort, gegen die ungeheuerliche Niedertracht des Antisemitismus zu protestieren. Aber es ist nutzlos, völlig nutzlos. Was ich oder jemand anderes Ihnen sagen könnte, sind in letzter Linie Argumente, logische und ethische Argumente, auf die kein Antisemit hören wird. Sie hören nur ihren eigenen Hass und Neid, ihre eigenen niedrigsten Instinkte. Alles andere zählt für sie nicht. Sie sind taub für Vernunft, Recht und Moral. Man kann sie nicht beeinflussen. [...] Es ist eine fürchterliche Epidemie wie die Cholera – man kann sie weder erklären noch heilen. Man muss geduldig warten, bis das Gift sich selbst aufgezehrt und seine Virulenz verloren hat“ (Mommsen, zit. nach Horkheimer 1972, 107).

Das Warten auf ein Ende der „Epidemie“ war, wie die Geschichte zeigt, nicht das geeignete Mittel, um die schlimmen Folgen des Antisemitismus zu verhindern. Resignation, Fatalismus und intellektueller Verzicht bewegen nichts. Das gilt auch heute, wo im Zuge der Corona-Pandemie der Antisemitismus wieder hochkocht.

4. Wie ein Training gestaltet werden sollte

Wenn man ein Argumentationstraining gegen Stammtischparolen durchführen möchte, sollte man sich zunächst ins Bewusstsein rufen, was ein Argumentationstraining überhaupt ist: Es ist eine Art Werkstatt, quasi ein Labor, eine offene Lernsituation. Das Lernen geschieht hier nicht durch Belehrung, sondern durch das gemeinsame Üben, die simulierte (spielerische) und verbale Auseinandersetzung der Beteiligten mit der Realität und durch das Nachdenken und Bewerten dessen, was man im Training erlebt. Vor allem wird erwogen, inwieweit dies mit der Wirklichkeit außerhalb des Workshops übereinstimmt und wie die erkannten und erprobten Verhaltensweisen – mit der Hoffnung auf Erfolg und mit gestärktem Selbstbewusstsein – dort eingesetzt werden können. In einem Argumentationstraining bekommen die Teilnehmer*innen zwar auch Informationen und Wissen durch die Workshop-Leitung geliefert, aber Vorrang haben die mitgebrachten Erfahrungen, das gemeinsame Ausprobieren und die daraus gezogenen Schlüsse. Der Lernweg und das Lernziel sind durch den Gruppenprozess bestimmt, daran sind alle beteiligt.

Das Argumentationstraining gegen Stammtischparolen ist ein Sonderfall eines Argumentationstrainings, indem es sich um eine Auseinandersetzung mit konflikthaften Begegnungen handelt, die eine politische Brisanz haben.

In diesem Argumentationstraining findet – von allen zusammen initiiert und entwickelt – politische Bildung statt. Dabei werden auch rhetorische Fähigkeiten erlernt und geübt, aber es ist kein inhaltsleeres Rhetoriktraining. Auch wird die Selbstsicherheit der Teilnehmer*innen gestärkt, aber es ist kein individualisierendes Seminar zur Selbsterfahrung.

Bisher bin ich von vielen und diversen Organisationen, Institutionen und Initiativen zu Argumentationstrainings gegen Stammtischparolen eingeladen worden und habe diese in einem unterschiedlichen zeitlichen Umfang (Abend-, Halbtages-, Zweitagesund Wochen-Veranstaltung) durchgeführt. Zudem stehe ich in einem ständigen Erfahrungsaustausch mit anderen Trainer*innen. Das Argumentationstraining gegen Stammtischparolen hat eine breite und solide fundierte fachliche Basis.*

* www.argumentationstraining-gegen-stammtischparolen.de/ (Öffnet in einem neuen Tab)

Literatur


Autor: Prof. Dr. Klaus-Peter Hufer

Klaus-Peter Hufer, Dr. rer. pol phil. habil. und apl. Professor, war von 1976 – 2015 hauptberuflich in einer VHS tätig, lehrt an der Fakultät Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen und führt bundesweit, in Österreich und der Schweiz Veranstaltungen zur politischen Bildung durch.

Download

Sie können die Artikelserie „Wenn die Worte fehlen - Argumente gegen Stammtischparolen“ als PDF-Datei herunterladen. 

Podcast

Episode 7: (Öffnet in einem neuen Tab) Sonderfolge mit Prof. Dr. Klaus-Peter Hufer

Themen: Umsetzung von Argumentationstrainings gegen rechte Parolen, praktische Übungen zur Umsetzung mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen und Fachkräften der politischen Jugendbildung 


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