Von Prof. Dr. Ulrich Klemm
Volkshochschulen stehen – anders als die allgemeinbildenden Schulen – in einem unmittelbaren Kontakt zu den gesellschaftlichen Verhältnissen. Das heißt, sie sind „ganz nah dran“ am Alltag der Menschen.
Als die ersten Volkshochschulen vor über 100 Jahren gegründet wurden, geschah dies vor allem auch aus einem politischen Bewusstsein der Aufklärung und Emanzipation heraus. Sowohl die bürgerliche Aufklärung des 18. als auch die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts standen dafür Pate. Dieser politischgesellschaftliche Charakter der Volkshochschulen wurde bis heute bewahrt. Deshalb verbinden diese Einrichtungen mit ihrer Arbeit immer auch einen demokratischen Auftrag und verstehen diesen als Daseinsvorsorge für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Dass dieser Bildungsauftrag auch in heutiger Zeit nicht einfach und problemlos ist, erleben die Volkshochschulen nahezu täglich. Die Ökonomisierung und das wirtschaftliche Verwertungsparadigma von Bildung einerseits sowie die Komplexität der politisch- gesellschaftlichen und demografischen Verhältnisse andererseits, prägen seit vielen Jahren die vhs-Arbeit.
Volkshochschulen im Spannungsverhältnis
Dieser Spagat, in dem sich die Volkshochschulen bewegen, macht ein Spannungsverhältnis deutlich, das bereits von Anfang an zu beobachten war. Aktuell gibt es unter anderem folgende Herausforderungen:
- Demografische Entwicklungen und Fachkräftemangel erfordern neue regionalspezifische Lösungen, sowohl in ländlichen als auch in urbanen Räumen.
- Politische und religiöse Radikalisierungen rufen eine Spaltung der Gesellschaft hervor, schüren Hass und erschweren sozialen Zusammenhalt.
- Die Digitalisierung ist nicht nur technisch und ökonomisch eine Herausforderung, sondern auch politisch und sozial. Welche Ressourcen, Kompetenzen und Expertisen benötigt der homo digitalis? Wie verändert ein digitaler Staat Alltag und Demokratie?
- Traditionelle Politikstile und Parteien geben vielen Bürgerinnen und Bürgern zunehmend kaum überzeugende Antworten, wecken das Bedürfnis nach Alternativen und stellen letztendlich im Extremfall das demokratische System in Frage.
- „Bildungsarmut“ und ungleiche Chancen – zum Beispiel sichtbar durch funktionale Analphabeten, Jugendliche ohne Schulabschluss sowie Migranten ohne Berufsausbildung – sind ein seit Jahrzehnten gewachsenes und ungelöstes Strukturproblem der Bildungspolitik.
- Weltweite Migrationsbewegungen und die Globalisierung verstärken interkulturelle Kommunikation, fördern Pluralität und erleichtern die Begegnung mit dem „Fremden“.
- Lebens(um)brüche im privaten wie im beruflichen Alltag bestimmen zunehmend und gleichsam in jedem Alter die Biografie jedes Einzelnen und erfordern ein lebenslanges Um- und Dazulernen.
Bürgergesellschaft als Orientierung
An dieser Stelle setzt die vhs heute mit ihrer Bildungsarbeit an. Vor allem politische Bildung erweitert ihre Funktion, wird zu einer Plattform für Demokratiebildung in einem weiten Sinne und verbindet Bildung mit Begegnung und Beratung. Die Bürgergesellschaft, Ausdruck einer freiheitlich demokratischen Grundordnung, wird dabei zum Orientierungspunkt für Bildungsarbeit und bestimmt Inhalte und Didaktik. Ermöglichung, Teilhabe und Zusammenhalt werden zum Leitbild und die Menschen zu etws zu befähigen (Empowerment), wird zum Lernziel. Konkret heißt dies für die vhs:
- Ausgangspunkt ihrer Bildungsarbeit sind konkrete Belange, Ereignisse und Bedarfe im Leben.
- Gemeinsames Handeln und Zusammenleben ist der Humus für demokratische Lebensverhältnisse. · Selbstorganisation und die Übernahme von Verantwortung für sich und das Gemeinwesen sind das grundlegende Werkzeug für demokratische Entwicklungen.
- Die Kooperation „auf Augenhöhe“ von Bürgerinnen und Bürgern mit Expertinnen und Experten aus Verwaltung, Politik und Wissenschaft benötigt einen Anlass und die Möglichkeit dazu.
- Das Proprium der vhs-Bildungsarbeit ist die demokratische Teilhabe aller in einer demokratischen Gesellschaft.
- Demokratiebildung wird zu einer Querschnittsaufgabe und kann nicht einem Fachbereich alleine zugeordnet werden.
Diese Ansprüche an demokratische Bildung sind für die Volkshochschulen bundesweit eine Herausforderung und flächendeckende Aufgabe – für urbane Räume wie für ländliche. In ländlichen Regionen jedoch, die in der Erwachsenenbildung bzw. vhs-Arbeit immer schon anderen Rahmenbedingungen als in den Städten ausgesetzt waren und sind, hat politische Bildung einen besonderen Charakter.
Politische Bildung in ländlichen Räumen
Angesichts des signifikanten Wandels gesellschaftlicher Verhältnisse in peripheren Regionen stehen Volkshochschulen derzeit besonders unter Druck, sich zu ändern und zu handeln. Als Beispiel dafür sei der „Kohleausstieg“ in der Lausitz (Brandenburg und Sachsen) bis 2038 genannt. Hier ist ein elementarer Strukturwandel zu erwarten, der eine kulturell, wirtschaftlich und historisch gewachsene Region vollkommen verändert und ihr eine neue Identität gibt. Für die Erwachsenenbildung an der vhs sind in diesem Kontext neue Formate der Bildungs- und Kulturarbeit bedeutsam, die sich als Beitrag für regionale Entwicklungsprozesse verstehen. Diese orientieren sich an Methoden der aktivierenden Gemeinwesenarbeit und ergänzen klassische Angebote:
- methodisch durch aufsuchende Bildungsarbeit, die neue Bildungsorte erkundet;
- inhaltlich durch einen stärkeren Bezug zu lokalen und regionalen Anlässen;
- pädagogisch durch eine Lernkultur, die Lernen als einen selbstgesteuerten und aktivierenden Prozess der Integration und Inklusion versteht, der entschult und entbürokratisiert sein muss.
Was die vhs-Arbeit im ländlichen Raum anbelangt, ergeben sich daraus drei strategische Entwicklungsziele für die Programmplanung:
- Mehr Vernetzung, das heißt sich vollziehende, individuelle und gesellschaftliche Veränderungen werden durch eine stärkere zivilgesellschaftliche Vernetzung vorhandener Ressourcen, Potenziale und Kapazitäten bewältigt,
- Mehr Beteiligung, das heißt die Umsetzung einer Strategie, die die vor Ort lebenden Menschen in öffentliche Angelegenheiten einbinden kann,
- Mehr Bildung: das heißt die Verwirklichung einer Wissensgesellschaft als Lernende Region, die Talente fördert und hervorbringt und sich die Frage stellt, welche Potentiale und Kompetenzen benötigt werden, damit Menschen eine (neue) Identität entwickeln können.
Die Volkshochschulen und die Daseinsvorsorge
Mit ihrer flächendeckenden sowie kommunalen Verankerung und öffentlichen Verantwortung im Rahmen einer Daseinsvorsorge kann die vhs eine intermediäre Rolle zwischen Menschen, Institutionen und Verhältnissen als gesellschaftlicher Entwicklungs- und Standortfaktor übernehmen – unabhängig von sozialräumlichen Rahmenbedingungen in Städten und ländlichen Regionen. Dazu ist es jedoch notwendig, an der vhs noch stärker eine Komm-Struktur mit einer Geh-Struktur zu verbinden sowie formale, non-formale und informelle Lernprozesse und vhs systemischer zu denken.
Das bedeutet, die sechs Fachbereiche der vhs, die inhaltlich und organisatorisch oftmals weitgehend getrennt voneinander arbeiten, benötigen eine Querschnittsarchitektur, die Vernetzung ermöglicht. Voraussetzungen dafür sind – neben neuen organisationalen und pädagogischen Aspekten – bildungsrechtliche und ordnungspolitische Rahmenbedingungen für die Erwachsenenbildung, wie in den Weiterbildungsgesetzen der Länder festgelegt. Hier müssen die Weichen für neue Förder- und Steuerungsinstrumente gestellt werden, um eine bürgerschaftliche Lernkultur umsetzen zu können.