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Deutscher Volkshochschul-Verband

„Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie“

Zu Bedeutung und Herausforderungen des Wissenschafts-Praxis-Transfers

von Prof. Dr. Bernd Käpplinger

Das Zitat im Titel von dem 1933 aus Deutschland geflüchteten Kurt Lewin scheint aktueller denn  je. Angesichts der Wissensintensität heutiger Arbeit und der Informationsflut braucht es systematische Orientierungen, die Realitäten reflektierend erklären helfen und dem Handeln eine Richtung geben können – über Zumutungen des Alltags und bloße Routinen hinaus. Dies betrifft auch die leitende, planende, lehrende und beratende Arbeit an Volkshochschulen. Die Erwachsenenbildungswissenschaft leistet dazu zentrale Beiträge. Aktuell sind in der Sektion Erwachsenenbildung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft rund 500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler organisiert. Zahllose Kooperationen und Wissenstransfers bestehen, die hier nur mit drei Stichworten skizziert werden.

Wissenstransfer hat eine lange Tradition

Dies hat erstens bereits eine lange Geschichte. Die vom DVV und dem DIE herausgegebene Jubiläumsschrift „100 Jahre Volkshochschule“ gibt eindrücklich darüber Auskunft, wie Wissenschaft und Praxis seit Beginn der Volkshochschulbewegung immer wieder eng verzahnt sind. Viele Dozentinnen und Dozenten waren Hochschullehrende. Angewandte Forschung findet über und mit Volkshochschulen statt. Zeitschriften wie die Hessischen Blätter für Volksbildungentstehen seit rund 70 Jahren in einer direkten Zusammenarbeit zwischen Erwachsenenbildungswissenschaft und Volkshochschulpraxis. Die Pädagogische Arbeitsstelle (PAS) des DVV und das DIE als Nachfolgeinstitution kooperieren oft eng mit der Sektion Erwachsenenbildung. Die Volkshochschulstatistik oder das vhs-Zertifikatswesen würde es ohne die PAS/DIE kaum geben.

Wissenschaft und Praxis befruchten sich wechselseitig

Aktuell stellen zweitens empirische Studien wie zum Beispiel der Adult Education Survey allgemein oder die Leo-Studien im Bereich des funktionalen Analphabetismus quantitative Daten und Analysen zur Verfügung, um die Relevanz der Volkshochschularbeit öffentlich sichtbarer zu machen. Qualitative Forschungen mit Interviews, Gruppendiskussionen, Programmanalysen oder Evaluationen sind zu ergänzen und fließen vor Ort in Kooperationen von Lehrstühlen der Erwachsenenbildung mit Volkshochschulen praxisbezogen ein. Dabei ist der Wissenstransfer keine Einbahnstraße von Universitäten in Richtung Volkshochschulen, sondern gerade durch qualitative Methoden können Alltagstheorien und das Expertenwissen in der Praxis gehoben werden und den Erkenntnisfortschritt der Forschung unterstützen. Ohne die Bereitschaft der Praxis, Forschung zu unterstützen, wäre vieles für die Wissenschaft nicht möglich. Wissenschaft und Praxis sind voneinander wechselseitig abhängig.

Wissenschaft qualifiziert für die Praxis

Dies zeigt sich drittens darin, dass in den Bachelor- und Masterstudiengängen mit Schwerpunkt Erwachsenenbildung – früher in den Diplom-Studiengängen – Personal für die Volkshochschulen ausgebildet wird. Dies betrifft traditionell besonders die Hauptamtlich-Pädagogisch-Mitarbeitenden (HPM) oder Leitungskräfte, die durch ihre Programmplanung und Beratung wesentlich dazu beitragen, dass Volkshochschulen seismographisch einerseits aktuelle Bildungsbedarfe aufspüren und andererseits neue Impulse mit innovativen Angeboten geben. Im Zuge des sich seit einigen Jahren vollziehenden Generationenwechsels und des ungebrochenen Wachstums der Volkshochschulaktivitäten finden viele unserer Absolventinnen und Absolventen einen Arbeitsplatz in den Volkshochschulen. Dabei bringen sie neues Wissen mit.

Und dennoch: Optimierungsbedarf ist stets vorhanden

Wie bereits erwähnt, wäre noch viel mehr zu nennen, was Erwachsenenbildungswissenschaft und Volkshochschulen transferbezogen verbindet. Ist es also rundum gut bestellt, um das Theorie-Praxis-Verhältnis? Trotz aller Kontinuitäten und Erfolge gibt es auch Optimierungs- oder Veränderungsbedarfe. Auch hier nur drei Punkte skizziert:

Den eigenen Beitrag zum Austausch kritisch reflektieren

Was wird erstens von der Praxis an aktuellen wissenschaftlichen Befunden wirklich rezipiert? Wo ist dafür angesichts der Arbeitsverdichtung die Zeit vorhanden und wo bestehen habituelle Barrieren, Differenziertes und Komplexes zu lesen, vor allem wenn es nicht sofortige Anwendbarkeit verheißt? Erwachsenenbildungswissenschaft versteht sich vom Selbstverständnis her als kritisch-reflexiv ausgerichtet und ethisch rückgebunden, was zu unbequemen Fragen an die Praxis führen kann. Betriebswirtschaftliche oder psychologische Studien versprechen vielleicht manchmal mehr schnellen Anwendungsbezug und monetären Nutzen. Wo müsste die Erwachsenenbildungswissenschaft die Verständlichkeit ihrer Fachsprache oder ihre Praxisrelevanz kritisch reflektieren?

Irritationen und Distanz zwischen Forschung und Praxis verhindern

Wie wird zweitens mit wechselseitigen Irritationen umgegangen? Führen sie als Lernanlässe dazu, dass man ihnen weiter nachgeht und ggf. Neues lernt? Besteht die Gefahr wechselseitiger Vorbehalte? Gibt es manchmal Aufklärungsversuche aus dem Elfenbeinturm heraus oder eine Ignoranz der Praxis? Was ist dagegen zu tun, wenn die – oft durchaus auch wichtige – Distanz von Forschung und Handlungsfeld zu groß zu werden droht? Welche Brücken lassen sich wie in Projekten und vor allem im Rahmen von kontinuierlichen Kooperationen bauen?

Bedarf in Aus- und Weiterbildung im Blick behalten

Drittens könnte einerseits die Einstellungspolitik der Volkshochschulen manchmal nicht allein inhaltlich- fachlich, sondern manchmal eher kommunal- und verwaltungspolitisch begründet sein, sodass zum Beispiel Programmplanung und Angebotsentwicklung von eher Fachfremden und Quereinsteigern gemacht wird, die im besten Fall durch Fortbildungen ein strukturiertes Wissen zum Handlungsfeld erwerben. Ist das Fortbildungswesen der Volkshochschulen als Arbeitgeber genügend ausgebaut und zeitgemäß aufgestellt? Andererseits müssen sich die Universitäten die Frage gefallen lassen, ob sie praxisbezogen genug ausbilden. Allein Reflexionswissen genügt nicht, um für die Praxis interessanten Nachwuchs auszubilden.

Fazit: Wissenstransfer lebendig halten

Insgesamt ist ein lebendiger Wissenstransfer zwischen Erwachsenenbildungswissenschaft und Volkshochschulpraxis wahrnehmbar. Gleichzeitig genügt dies bei weitem noch nicht und es besteht die Notwendigkeit, dies weiter auszubauen. Dazu sollte dieser Artikel einige Anregungen geben. Damit eine gute Theorie praktisch wird, muss sie auch bekannt sein und Personen finden, welche die Muße haben sie anzuwenden.


Über den Autor

Prof. Dr. Bernd Käpplinger ist Leiter der Professur für Weiterbildung an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Vorstandsmitglied der Sektion Erwachsenenbildung der DGfE.

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Bildnachweise

  • Anja Schaal