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Deutscher Volkshochschul-Verband

Der Riese ist erwacht: Digitale Transformation von Volkshochschulen

„Erweiterte Lernwelten“ halten Einzug in die Praxis

Dezember 2017

Von Karsten Schneider

"Digitale Integration durch eine Digital-Volkshochschule“ forderte Sascha Lobo in seinen Überlegungen zu einem digitalen Marshallplan für Deutschland auf Spiegel Online. Eine breite Offensive für digitale Bildung auch unter Erwachsenen sei erforderlich, damit Rüstzeug zur Teilhabe an einer digitalen Gesellschaft entstehe. Von einem ganz anderen Thema her kommend, griff René Obermann, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Telekom, diesen Gedanken in der ZEIT auf: In seinem Aufruf an Unternehmer, für ein starkes Europa einzutreten, betont er die Wichtigkeit von bestens ausgebildeten Menschen für die Zukunft der EU. Und mit einer digitalen Volkshochschule ließe sich aus seiner Sicht mehr Chancengerechtigkeit schaffen. Es dürfte wohl recht lange her sein, dass der Auftrag von Volkshochschulen bei prominenten Publizisten solch einen Stellenwert hatte.

vhs auf dem Weg zur digitalen Bildungseinrichtung

Volkshochschulen haben in den letzten zwei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts eine Vielzahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit EDV-Anwendungen vertraut gemacht. Sie haben wertvolle Kompetenzen für die Einführung computerisierter Prozesse in allen Teilen der Gesellschaft vermittelt. Schon damals waren sie ein zentraler Akteur bei der Gestaltung von digitalen Transformationsprozessen.

Den mit der Digitalisierung einhergehenden gesellschaftlichen Herausforderungen stellen sich Volkshochschulen aktuell in gleicher Weise. Die Strategie „Erweiterte Lernwelten“ des Deutschen Volkshochschul-Verbandes zielt darauf ab, alle Volkshochschulen in Deutschland bei der Entwicklung von Angeboten zum digitalen Wandel sowie von digital erweiterten Angebotsformaten zu unterstützen und diese nachhaltig institutionell zu verankern.

Medienkompetenzen für die digitale Gesellschaft

Wer sich im digitalen Raum bewegt, ist häufig nicht nur passiver Nutzer, sondern produziert selbst mediale Inhalte und Daten. Digitale Medienkompetenz beschränkt sich daher nicht auf informationelle Orientierung, rezeptive Nutzung von Angeboten und kritische Reflexion von Inhalten. Sie beinhaltet viel stärker als in den klassischen Medien auch die interaktive und kreative Produktion von Inhalten. Da Konsumenten so zu Prosumenten werden, entsteht eine Masse von Information, die die Informationsgewinnung und -bewertung erschwert. Fake News, Social Bots und Filterblasen sind Phänomene, die dabei zusätzlich verunsichern. Volkshochschulen sind bestens geeignet, die für die digitale Gesellschaft notwendigen medialen Handlungskompetenzen flächendeckend zu vermitteln. 

Digitalisierung und Teilhabe

Menschen, die wenig oder nur unreflektiert mit Computer und Internet umgehen, werden im rasant verlaufenden digitalen Wandel schnell abgehängt. Die exponentielle Vervielfachung von Information und Wissen ist eine besondere Herausforderung für benachteiligte und bildungsferne Menschen. Das Tempo der Digitalisierung sorgt für eine zunehmend verfallende Halbwertszeit der medialen Anwendungskompetenz und erschwert dadurch den Wiedereinstieg in den Beruf nach Arbeitslosigkeit oder Elternzeit. Insgesamt verstärkt die Digitalisierung Ungleichheiten der Partizipation und der Teilhabe. Dieser drohenden digitalen Spaltung der Gesellschaft können Volkshochschulen entgegenwirken. Sie erreichen viele der betroffenen Menschen, wie Erwachsene mit Grundbildungsbedarf, Zugewanderte, Wiedereinsteiger*innen ins Berufsleben oder Arbeitslose besonders gut.

vhs als Katalysator gesellschaftlicher Vernetzung

Ein zentrales Merkmal der digitalen Gesellschaft ist die Konnektivität, die zunehmende Vernetzung der Welt. Sie durchdringt alle Lebensbereiche, auch die Erwachsenenbildung. Weltweit wächst die Zahl aktiver Internetnutzer. In Deutschland liegt der Anteil laut D21-Digital-Index 2016 bei 79 Prozent, in vielen anderen Industrieländern noch höher. Die Mehrheit der Deutschen nutzt Instant-Messaging-Dienste wie WhatsApp und knapp die Hälfte ist Teil eines sozialen Netzwerkes. Dieser Vernetzungstrend betrifft auch alle Komponenten von Lernumgebungen: Lehrende und Lernende, Lernorte, Lernzeiten, Lernwege, Lerninhalte und Curricula, Lernwerkzeuge aller Art. Der digitalen Volkshochschule kommt in diesem Prozess eine Knotenfunktion zu: Sie ermächtigt den Einzelnen zur gesellschaftlichen und politischen Teilhabe und bringt die Akteure der Zivilgesellschaft durch Lernumgebungen, die digital und analog gestaltet sind, zusammen.

Meilensteine auf dem Weg in erweiterte Lernwelten

Punktuell setzen Volkshochschulen längst digitale Instrumente im Rahmen ihrer Veranstaltungen ein. Eine systematische Digitalisierungsstrategie umfasst jedoch die gesamte Bildungsorganisation und alle relevanten Abläufe. Große Herausforderungen liegen insbesondere im Bereich der Medienentwicklungsplanung. Es gilt pädagogische Medienkonzepte und technische Ausstattungskonzepte zur entwickeln. Zudem müssen Kompetenzen zur Mediendidaktik und zum Medienrecht erweitert werden.

„Wecke den Riesen auf!“ So lautete im Herbst 2013 der Titel des MOOC (Massive Open Online Course) zum Weblernen mit Volkshochschulen. Der MOOC war ein Kristallisationspunkt, an dem die Auseinandersetzung von Volkshochschulen mit dem digitalen Wandel von der Beschäftigung einzelner Pioniere überging zu einer breiteren Bewegung. Einer der stärksten Motivatoren war laut Evaluationsbericht der Wunsch, das Thema „Digitale Medien“ in den Volkshochschulen zu stärken.

Heute lässt sich mit Recht sagen: Der Riese ist erwacht. Und er ist in Bewegung gekommen. Die von der DVV-Mitgliederversammlung im Juni 2015 beschlossene Strategie „Erweiterte Lernwelten“ wird mit viel Einsatz realisiert. Aktuell entwickeln und erproben bundesweit rund 150 Volkshochschulen in 34 DigiCircles modellhaft Angebote der Erweiterten Lernwelten. Ende Februar 2018 können alle Volkshochschulen die vhs.cloud nutzen, um sich zu vernetzen, miteinander und voneinander zu lernen und um webgestützte Lernangebote zu entwickeln und zu erproben.

Erste Beobachtungen aus den DigiCircles

Die Vielfalt digitaler Leuchtturmprojekte, die in den DigiCircles vorgestellt und gemeinsam weiterentwickelt wird, ist viel größer als zunächst erwartet – und spiegelt die Vielfalt der Volkshochschulen wider. Vielerorts kommen wertvolle Impulse aus Volkshochschulen, in Form von Ideen und Beispielen guter Praxis.

Begegnung kann auch zwischen Nullen und Einsen stattfinden, eingebettet in digitale Angebote. Auch in der Digitalisierung kommt es auf die Kernkompetenz der Volkshochschulen an, Bildung in Begegnung zu organisieren. Das erfordert das Experimentieren mit neuen Formaten über Kurs und Vortrag hinaus.

Volkshochschulen denken vernetzt und nutzen das auch für Erweiterte Lernwelten. Kooperationen mit Bibliotheken und Hochschulen sind dabei ebenso im Blick wie die Zusammenarbeit mit Kultureinrichtungen oder Verlagen.

Die Entwicklung von Angeboten führt in den DigiCircles häufig zu Fragen bezüglich der grundsätzlichen Voraussetzungen in der eigenen Or­ga­nisation. Bisweilen wird gar über eigene Organisationseinheiten für die Entwicklung und Erbringung digitalisierter Angebote nachgedacht. Eine breite Suchbewegung hat eingesetzt. Erkundenswerte Richtungen kristallisieren sich bereits heraus, aber vieles ist noch offen.

Worauf es ankommt

Die Kernidentität der Volkshochschule hat hohe Relevanz für die Herausforderungen der Digitalisierung: Weiterbildung für alle, in öffentlicher Verantwortung, für Teilhabechancen und Bildungsgerechtigkeit. Dieses Selbstverständnis gilt es auf die digitalisierte Gesellschaft zu übertragen. Neue Formate, Verbreitungswege und Werkzeuge sowie Veränderungen bei Strukturen und Abläufen sind nur Mittel zum Zweck.

Daher darf und muss die Suchbewegung in den nächsten zwei Jahren noch grundsätzlicher werden. Es wird darum gehen, sich mit den eigenen Grundsätzen, den Eckpfeilern der Volkshochschul-Identität und -Organisationskultur zu befassen. DIE digitale Volkshochschule wird es wohl genauso wenig jemals geben wie es DIE Volkshochschule gibt. Vernetzung, Kollaboration, gemeinsame Vermarktung können allerdings Raum für regionale, bedarfsorientierte Profilierung schaffen.

Volkshochschulen haben sich im Laufe der Jahrzehnte immer wieder auf neue Anforderungen eingestellt und sich organisatorisch weiterentwickelt. Das wird ihnen bei der digitalen Transformation sehr zugute kommen. Zudem bildet sich die wachsende Konnektivität auch in der Volkshochschullandschaft ab. Mehr denn je sind sich Volkshochschulen und ihre Verbände bewusst, wie wichtig arbeitsteiliges, vernetztes Agieren ist. Die Strategie „Erweiterte Lernwelten“ ist auf dem besten Wege zu einer breiten Bewegung zu werden.

Wenn sich Riesen in Gang setzen, mag das für das menschliche Auge zunächst sehr langsam wirken. Aber die Bewegungsdynamik ist umso größer. Und in den nächsten zwei Jahren wird die Schrittlänge von Riesen nötig sein, um den digitalen Wandel zu gestalten. Das gilt für die Volkshochschulen und auch gesamtgesellschaftlich.

Karsten Schneider ist Direktor des Landesverbands der Volkshochschulen Schleswig-Holsteins und von 2016 bis 2018 Sprecher des Bundesarbeitskreises Erweiterte Lernwelten.

Hinweis: Dieser Artikel ist erschienen in der dis.kurs-Ausgabe 4/2017.

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Bildnachweise

  • vhsMOOC / Mit freundlicher Gehnehmigung von Joachim Sucker
  • Deutscher Volkshochschul-Verband e.V.