Die Identifizierung mit den Zielen und Errungenschaften einer vielfältigen europäischen Demokratie ist heute beileibe kein Konsens mehr. Überall in Europa grassieren nationalistische und anti-europäische Haltungen. Globalisierung, Migration und soziale Konflikte spalten die Gesellschaften. Solidarität unter den EU-Mitgliedsstaaten ist keine feste Größe, das Zusammenleben in einem friedlichen und solidarischen Europa keine Selbstverständlichkeit mehr.
Lebendige Demokratie
Die Krise Europas trifft die Volkshochschulen als Töchter der Demokratie und der europäischen Aufklärung bis ins Mark. Als Volkshochschulen identifizieren wir uns mit Europas Friedensgeschichte der vergangenen sieben Jahrzehnte und mit Europas freiheitlicher Ordnung. Wir stehen zu Parlamentarismus, Rechtsstaatlichkeit und den Prinzipien einer offenen Gesellschaft in Europa. Unser Beitrag für das Europa der Zukunft ist dabei die Vermittlung und Bildung zu Geschichte, Sprache und Kultur sowie die Aufklärung über Ziele, Strukturen und Funktionsmechanismen europäischer Politik, aber auch die möglichen Probleme und Hindernisse bei der weiteren Entwicklung eines einigen und fortschrittlichen Europas.
Dabei darf und kann es uns nicht um Bekehrung oder Indoktrination gehen, sondern um Unterstützung und Befähigung der Bürgerinnen und Bürger, als Teil der Zivilgesellschaft eine aktive und selbstbestimmte Rolle einzunehmen. Denn Europa braucht nicht nur demokratisch verfasste Institutionen, sondern auch Menschen, die für demokratische Werte und Überzeugungen eintreten. Eine solches überzeugtes und aktives europäisches „Bürgertum“ entwickelt sich im Zusammenleben und Zusammenhalten auch durch das zusammen Lernen.
Deshalb werden in Volkshochschulen – Europas größter Sprachenschule – die kulturelle und sprachliche Vielfalt Europas erlernbar und im besten Sinne erlebbar gemacht genauso wie Interkulturalität und der Austausch mit Partnerorganisationen gepflegt.
Eine lebendige Demokratie benötigt Beteiligungsräume, in denen Menschen mit unterschiedlichen und auch gegensätzlichen Interessen, Werten und Haltungen sich auseinandersetzen können. Ziel ist es nicht, die politische oder weltanschauliche Bestimmtheit der Teilnehmenden aufzuheben, sondern in einer offenen Gesprächskultur gemeinsame Ideen zu entwickeln und Lösungen für das Zusammenleben zu finden. Dass solche Bürgerdialoge funktionieren und in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft unerlässlich sind, haben die Volkshochschulen in den vergangenen Jahren bei verschiedenen Anlässen unter Beweis gestellt.
Europadialoge an Volkshochschulen
In Deutschland sind Volkshochschulen die Orte der Begegnung und des Dialogs von Menschen in unseren Städten, Landkreisen und Gemeinden. Deshalb war es sicherlich kein Zufall, dass die Bundesregierung die Volkshochschulen als exklusiven Partner ausgewählt hat, als von Mai bis Oktober 2018 die Bürgerinnen und Bürger in allen Mitgliedsstaaten aufgerufen waren, darüber zu diskutieren, wie ihnen Europa im Alltag begegnet, welche Rolle Europa für die Lebenswirklichkeit in ihrem Land spielt und wie Europa in Zukunft aussehen sollte.
Rund 30 solcher Bürgerdialoge haben an Volkshochschulen stattgefunden und dass die Bundeskanzlerin an der Dialogveranstaltung der vhs Tier selbst teilgenommen hat, dürfen Volkshochschulen auch als Anerkennung dafür betrachten, dass sie das Thema Europa stets lebendig gehalten haben. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde in den Europadialogen Raum gegeben, um über gute und schlechte Erfahrungen, prägende Erlebnisse, Sorgen, Kritik und Wünsche zu sprechen. Die Bundesregierung will daraus Rückschlüsse ziehen für die zukünftige Ausgestaltung der EU. Das ist schon sehr schön und sehr gut, aber dabei wird es nicht bleiben dürfen.
Nachhaltigkeit werden Bürgerdialoge über Europa nur dann erzeugen, wenn Parteien, gewählte Abgeordnete und Regierungen erkennen, dass wir programmatische Alternativen und konkrete Lösungsvorschläge sowie einen fortwährenden Aushandlungs- und Gestaltungsprozess in Kooperation mit den Bürgerinnen und Bürgern brauchen, damit Frieden,Demokratie, Wohlfahrt, Nachhaltigkeit und ein gutes Miteinander in Europa gedeihen.
Europa muss neue Akzente setzen
Bei der Europawahl 2019 haben die politischen Parteien eine große Chance, ein starkes Zeichen für Europa an die Wählerinnen und Wähler zu senden. Sie können eintreten für eine starke europäische Agenda für Erwachsenenbildung im Europa der Zukunft. Diese Agenda Europa 2030 muss die großen Potentiale der politischen und kulturellen Erwachsenenbildung anerkennen und Fördermöglichkeiten schaffen für Angebote, die das gemeinsame europäische Leben konkret erfahrbar und den europäischen Zusammenhalt dauerhaft und krisenresistent stärken. Wir wissen darum, dass die Erwachsenenbildung hier nicht der zentrale und entscheidende Faktor ist.
Aber wir sind selbstbewusst, dass die Erwachsenenbildung hier einen wichtigen Beitrag leisten kann. Der DVV hat der Politik dazu eine ganze Reihe an Vorschlägen vorgelegt. Eine Fortschreibung bisheriger Programme wäre dabei zu wenig. Es geht auch um den Mut, neue Akzente zu setzen und bei drängenden Themen zielstrebig eine Vorreiterrolle einzunehmen. Obwohl digitale Kompetenzen unbestreitbar zu einem entscheidenden Faktor für gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe geworden sind, verfügen 44 Prozent der Bevölkerung der EU über nur geringe oder keine (19 Prozent) digitale Kompetenz (European Digital Progress Report der Europäischen Kommission, 2017). Um Europa fit zu machen für die digitale Transformation, bedarf es einer umfassenden digitalen Weiterbildungsoffensive in allen Mitgliedsstaaten, die die politische Urteilsfähigkeit und Medienkompetenz der Menschen stärkt. Auch in der Bildung für nachhaltige Entwicklung könnte Europa Maßstäbe setzen.
Die immense Bedeutung von Themen wie Klimawandel und Artensterben verlangt überall in Europa eine Aufklärung über globale Interdependenzen, Möglichkeiten der politischen Einflussnahme und sinnvolle Handlungsansätze für den Einzelnen.
Angesichts von Zweifeln an Europa und gegen die weitere Ausbreitung von EU-Skepsis und EU-Gegnerschaft wollen die Volkshochschulen in den kommenden Jahren die europapolitischen Akzente in ihrer Arbeit verstärken.
Dazu bedarf es breiter Allianzen mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen und politischer Unterstützung auf allen Ebenen, von der Kommunal- und Länderpolitik über die Bundes- bis hin zur Europapolitik.