Dr. Angela Rustemeyer, veröffentlicht am 28.06.18
Funktionaler Analphabetismus hat viele Facetten
Im ersten Förderschwerpunkt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zum funktionalen Analphabetismus in Deutschland (2007-2012) wurde nicht nur die Gesamtzahl der Menschen im Erwerbsfähigenalter, die nicht richtig lesen und schreiben können, ermittelt, sondern auch die Vielfalt der Zielgruppen beschrieben. Die Mehrheit der funktionalen Analphabetinnen und Analphabeten in Deutschland hat Deutsch als Erstsprache, 42 Prozent sind jedoch Zweitsprachlerinnen und Zweitsprachler. Die meisten Menschen mit gravierenden Defiziten im Lesen und Schreiben sind erwerbstätig, aber die Erwerbslosen bilden eine große Minderheit. Funktionale Analphabet*innen arbeiten vor allem in Branchen, die von mittelständischen Unternehmen geprägt sind (Bau-, Reinigungs-, Hotel- und Gaststättengewerbe)[1], aber auch Großbetriebe sind mit dem Problem mangelnder Schriftsprachkompetenz in ihren Belegschaften konfrontiert. Die Chancen, funktionale Analphabet*innen über ihren Arbeitsplatz zu erreichen und in Kooperation mit den Unternehmen zum Lernen zu motivieren, variieren je nach Branche und Betriebsgröße[2], sind aber generell begrenzt: Mangelnde Lese- und Schreibkenntnisse bei Mitarbeiter*innen bzw. Kolleginnen und Kollegen sind in Betrieben zwar bekannt, werden aber im Arbeitsalltag meist so weit kompensiert, dass Betriebsführung und Belegschaft wenig Handlungsbedarf sehen.[3] Am größten dürften die Chancen auf erfolgreiche Initiativen für Grundbildung am Arbeitsplatz wohl in öffentlichen Unternehmen wie denen der Kommunen sein, weil politische Akteure hier die größten Einflussmöglichkeiten haben.
Das Umfeld handelt eher kompensatorisch als fördernd
Auch Bemühungen, funktionale Analphabet*innen aus verschiedenen Milieus über ihr privates Umfeld zu erreichen, haben erhebliche Hindernisse zu überwinden: Das Umfeld tendiert meist nicht dazu, die Betroffenen zur systematischen Verbesserung ihrer Lese- und Schreibkenntnisse zu bewegen. Jedenfalls geben weniger als ein Fünftel der Personen aus dem Umfeld von Menschen mit großen Defiziten im Lesen und Schreiben Wissen um Lernangebote für funktionale Analphabet*innen an Betroffene weiter.[4]
Grundbildung muss zur Querschnittsaufgabe werden
Angesichts der offenkundigen Probleme, funktionale Analphabetinnen und Analphabeten über ihren Arbeitsplatz oder ihr privates Umfeld zu erreichen, erscheint es umso wichtiger, Alphabetisierung in bestehenden Bildungszusammenhängen zu etablieren und bestehende Kommunikationsstrukturen zu nutzen. Alphabetisierung ist eine Querschnittsaufgabe. Funktionale Analphabet*innen sind Beschäftigte in Betrieben, Kund*innen der Jobcenter, Bürgerinnen und Bürger ihrer Kommunen. Alphabetisierung muss daher fester Bestandteil der beruflichen Weiterbildung für Beschäftigte, der Qualifizierungsangebote der Jobcenter für Erwerbslose sowie für Erwerbstätige mit prekärem Status, der Qualifizierungsangebote von Beschäftigungsgesellschaften, der kommunalen Bildungsplanung werden.
Verankert ist die Alphabetisierung durch den Integrationskurs mit Alphabetisierung bereits in der sprachlichen Bildung für Migrant*innen, doch ergeben sich hier derzeit große neue Herausforderungen. Personen mit Deutsch als Zweitsprache waren laut leo.-Studie bereits 2011 mit 3,1 von 7,5 Millionen funktionalen Analphabet*innen weit überrepräsentiert. Hierbei handelte es sich zumindest zum Teil um Menschen mit guten mündlichen Deutschkenntnissen. Hinzu kommen nun zahlreiche neue Zuwanderer, die Deutsch weder sprechen noch lesen und schreiben und häufig auch ihre Erstsprache nur mündlich beherrschen. Der Anteil der Alphabetisierung an der Sprachbildung für Migranten wird künftig wachsen.
Schriftspracherwerb muss im Kontext von Grundbildung stattfinden
Nicht zuletzt angesichts der Aufgabe, neue Zuwanderer mit geringem Bildungsstand zu integrieren, stellt die von Bund und Ländern ausgerufene „Dekade für Alphabetisierung“ den Schriftspracherwerb in den Mittelpunkt. Doch wird die elementare Schriftsprachbeherrschung längst nicht mehr isoliert betrachtet, sondern im Kontext anderer Kompetenzfelder. Elementare Rechenkenntnisse etwa und die Fähigkeit, digitale Medien aktiv zu verwenden, gelten als ebenso unverzichtbar für Beschäftigungsfähigkeit und Partizipation wie Lese- und Schreibkenntnisse. Literalität wird zunehmend im Sinne von literacy („Grundbildung“) verstanden. Damit tritt neben die Vielfalt der Zielgruppen von Alphabetisierung die Vielfalt der Kompetenzen, die im Rahmen der Alphabetisierungsdekade zahlreichen Erwachsenen vermittelt werden sollen.
[1] leo.-News 02/2012, leo.-News 06/2012 (http://blogs.epb.uni-hamburg.de/leo/files/2012/02/leo.-Newsletter-02-2012.pdf (Öffnet in einem neuen Tab) (Öffnet in einem neuen Tab), aufgerufen am 17.05.2016).
[2] Simone C. Ehmig, Lukas Heymann, Carolin Seelmann, Alphabetisierung und Grundbildung am Arbeitsplatz. Sichtweisen im beruflichen Umfeld und ihre Potenziale.(„SAPfA-Studie“) (www.stiftunglesen.de/download.php?type=documentpdf&id=1523 (Öffnet in einem neuen Tab), aufgerufen am 17.05.2016), S. 56: „Dennoch werden Potenziale vorhanden und vorsichtig auszuloten sein. Sie liegen eventuell in Betrieben mittlerer Größe, in denen Arbeitgeber überdurchschnittlich häufig wahrnehmen, dass betroffene Mitarbeiter ihre Situation verändern wollen. Potenziale liegen damit möglicherweise besonders in bestimmten Wirtschaftszweigen: Arbeitgeber aus dem Garten- und Landschaftsbau, der Gastronomie und dem Handwerk sowie Arbeitnehmer aus dem produzierenden Gewerbe vermuten häufiger als Befragte anderer Branchen eine Änderungsbereitschaft funktionaler Analphabeten“.
[3] Ebd.
[4] Umfeldstudie, Newsletter 09/2015, http://blogs.epb.uni-hamburg.de/umfeldstudie/files/2015/09/UFS-News-2015-09-Empfehlung-von-Weiterbildung.pdf (Öffnet in einem neuen Tab)(aufgerufen am 17.05.2016).
Autorin
Dr. Angela Rustemeyer arbeitet beim Deutschen Volkshochschul-Verband als Projektleiterin im Projekt Rahmencurriculum und abschlussorientierte Grundbildung (Transfer).