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Deutscher Volkshochschul-Verband

„Eine vhs, die Diversität nicht berücksichtigt, verliert ihre Legitimation.“

Interview mit der Bildungsforscherin Prof. Dr. Alisha M. B. Heinemann

Die Vielfalt der modernen Gesellschaft, beeinflusst durch Globalisierung, Migration und den demografischen Wandel, prägt das Leben in Deutschland und der gesamten Welt. Wir können als Volkshochschulen nur erfolgreich sein, wenn wir die vorhandene Vielfalt erkennen und jede und jeden befähigen, sich mit ihren bzw. seinen Kompetenzen in die Gesellschaft einzubringen.

„Vielfalt. Begegnung. Bildung. Diversity-Management in den Volkshochschulen und ihren Verbänden“

Was bedeutet dieser zentrale Satz aus dem DVV-Papier: „Vielfalt. Begegnung. Bildung. Diversity-Management in den Volkshochschulen und ihren Verbänden“ aber konkret? Um die vielfältigen Voraussetzungen und Interessen der vhs deutschlandweit zu berücksichtigen, wurden im Vorfeld zu diesem Interview Landesverbände und einzelne vhs gebeten, ihre Fragen zum Thema „Diversität/Vielfalt an den Volkshochschulen“ mit uns zu teilen. Diese Vorarbeiten bilden das Fundament für die Ausrichtung des Interviews.

Prof. Dr. Alisha M. B. Heinemann ist seit April 2019 Vertretungsprofessorin an der Universität Bremen im Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Bildungsinstitutionen/-verläufe und Migration. Sie beschäftigt sich in der Migrations-/Fluchtforschung unter anderem mit den Schwerpunkten: Kritische Erwachsenenbildung, Postkoloniale Theorie, pädagogische Professionalität in der Migrationsgesellschaft, Deutsch als weitere Sprache, Mehrsprachige Klassenräume und Übergang Schule – Beruf.

Im Interview

„Diversity, Vielfalt, Diversität“– diese Begriffe sind heutzutage in aller Munde. Was ist eigentlich damit gemeint, wenn wir von Diversität in der Erwachsenenbildung sprechen?

Prof. Dr. Alisha M. B. Heinemann: Dafür müssten wir uns zunächst einmal fragen, was gemeint ist, wenn wir von Erwachsenenbildung sprechen. Institutionen der Erwachsenenbildung sind historisch aus einem emanzipatorischen Ansatz heraus entstanden. Sie wollten erstens einen aktiven Beitrag dazu leisten, gesellschaftliche Ungleichheiten durch lebenslang begleitende Lernangebote und Bildungsorte auszugleichen. Zweitens ging es ihnen darum, eine demokratische Gesellschaft mitzugestalten. Jene In­stitutionen, die sich auch heute noch diesen Zielen verschreiben, kommen nicht umhin, sich mit gesell­schaftlichen Differenz- und Machtverhältnissen aus­einandersetzen.

Hierarchisierende Kategorien wie das Konstrukt der „ethnischen Herkunft“, Gender, die sexuelle Identität, die Milieuzugehörigkeit, aber auch rechtliche Rah­menbedingungen wie der Aufenthaltsstatus spielen eine wichtige Rolle bei der Frage, wer in dieser Gesell­schaft welchen Platz einnehmen kann. Wenn wir von Diversität in der Erwachsenenbildung sprechen, geht es dann vor allem um die Frage, was wir tun können, um a) die ausgrenzende Kraft dieser Kategorien, an denen Differenz festgemacht wird, in unserer täg­lichen Arbeit nicht zu reproduzieren und b) daraus entstehende Benachteiligungen aktiv zu reduzieren.

Warum ist es für die Volkshochschulen wichtig, ein diversitätsorientierter Lernort zu sein? Was wären die Volkshochschulen ohne diesen Ansatz?

Heinemann: Das eben genannte, historisch verankerte demokra­tische Kernanliegen von Erwachsenenbildungsein­richtungen ist der Grund dafür, warum die Volkshoch­schulen staatliche Steuergelder zur Unterstützung ihrer Arbeit erhalten und nicht einfach komplett pri­vat organisierte und finanzierte Kleinunternehmen sind. Wenn nur ein kleiner und dann, abgesehen von den Deutschkursen, oft vergleichsweise privilegierter Teil der Bevölkerung sich in der vhs repräsentiert se­hen kann, stellt sich die Frage, warum sie dann von Steuergeldern aller mitfinanziert werden sollte. Eine vhs, die Diversität nicht berücksichtigt, verliert somit ihre Legitimation und ihre besondere, gesellschaftlich relevante, ausgleichende Funktion. An vielen Stellen haben die Volkshochschulen diese Problematik er­kannt und unternehmen wichtige Schritte – diese müssen jedoch ausgeweitet und verstetigt werden.

Die Volkshochschulen sind jedoch sehr unter­schiedlich aufgestellt – eine Volkshochschule in einem kleinen Landeskreis in Bayern oder Brandenburg kann nicht wie eine großstädtische Volks­hochschule in Berlin oder Frankfurt arbeiten. Ist das Thema „Diversität“ eher etwas für die großstädtischen Volkshochschulen?

Heinemann: Diese Frage wird häufig gestellt, was daran liegt, dass unter „diversitätsorientiert“ oft verkürzt das „Gewin­nen von migrantischen Teilnehmer*innen“ durch ein besser abgestimmtes Programmangebot verstanden wird. Abgesehen davon, dass Migration nicht nur in den Großstädten stattfindet, umfasst das weite Konzept der Diversität ja Differenzlinien wie z.B. Ge­schlecht, sexuelle Identität, sozioökonomischer Sta­tus, Alter, Bildungsabschluss etc. Diese finden sich überall – nicht nur in Großstädten.

Und welche konkreten Schritte sollte die vhs um­setzen, um Diversität auf allen Ebenen zu berück­sichtigen?

Heinemann: Sie sollte erstens ein von der Leitungsebene getra­genes Leitbild und Profil entwickeln, das eine klare Ausrichtung der ganzen Organisation auf institu­tionelle Öffnung vorgibt, wobei migrationsgesell­schaftliche Verhältnisse als Normalität und nicht als Sonderzustand bzw. dauernde Herausforderung in den Blick genommen werden sollten. Zweitens sollte die Personalstruktur auf allen Hierarchieebenen und insbesondere auf der Leitungsebene die jeweilige regionale Diversität abbilden. Drittens wäre es auf der Angebotsebene sinnvoll, mit den verschiede­nen Communities (Vereine, migrantische/queere Communities, Kirchen, Moscheen etc.) vor Ort aktiv zusammenzuarbeiten und ihnen die Möglichkeit zu geben, mit Hilfe der infrastrukturellen Ressourcen der vhs, selbst Inhalte zu setzen und in den Räumen der vhs durchzuführen.

Vor allem aber sollte Diversity kein Randthema sein, mit dem sich eine Diversitätsbeauftragte alleine auf einer befristeten halben Stelle herumquält, oder et­was, was eine eh überlastete Fachbereichsleitung noch als Zusatzaufgabe bekommt. Fragen von Diffe­renz und Macht müssen auf allen Organisationsebe­nen zum Thema werden. Dafür müssen ansprechend gestaltete Orte und Reflexionsräume geschaffen wer­den, in denen es nicht um Moral und Schuldfragen, sondern um kritische Reflexivität und veränderndes Eingreifen in benachteiligende Verhältnisse geht. Das könnten beispielsweise verpflichtende Fortbildungs­angebote sein, eine Antidiskriminierungsstelle im Haus, diversitätsreflexive Kriterien bei Neueinstellun­gen, monatliche Reflexionstreffen für den Austausch etc. Auch wenn es am Anfang nach mehr Arbeit aus­sieht, wird es auf lange Sicht zur Entlastung der täg­lichen Arbeit führen. Denn andere Perspektiven er­öffnen andere Möglichkeiten und eine vhs, die in der Stadt wirklich „ankommt“, wird auch von den Men­schen vor Ort ganz anders akzeptiert.

Wir sprachen davon, dass Diversität nicht allein „migrantisch“ heißt. Trotzdem ist es auffällig, dass sich der Großteil der migrantischen Teilnehmenden in einem einzigen Bereich befindet: dem Deutsch­bereich. Warum funktioniert der Wechsel von den Deutschkursen in das „offene Angebot“ der Volks­hochschulen so schlecht?

Heinemann: Menschen nehmen üblicherweise an Weiterbildung teil, wenn sie einen persönlichen oder beruflichen Nutzen darin sehen, wenn sie Zeit haben, die Ange­bote wahrzunehmen und wenn sie diese finanzie­ren können. Die Deutschkurse werden so breit an­genommen, weil die Teilnehmenden sich entweder eine Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten ver­sprechen, teilweise, weil sie zur Teilnahme verpflich­tet wurden, weil an ihnen Zertifikate hängen, die für die Teilnehmenden aus unterschiedlichen Gründen notwendig sind, und/oder weil die Kosten für die Teilnahme im Verhältnis zur Stundenzahl niedrig und teilweise sogar kostenlos sind.

Die Teilnahmebedingungen im offenen Angebot sind völlig andere. Insbesondere der konkrete Nut­zen vieler Angebote liegt oft nicht klar auf der Hand, sodass der finanzielle Aufwand nicht im richtigen Verhältnis zu stehen scheint. Dies gilt ja nicht nur für migrantische Teilnehmende, sondern grundsätzlich für die meisten Adressat*innen, die aus sozial und fi­nanziell benachteilten Milieus kommen.

Studien zeigen, dass Migrant*innen, die mit einem hohen sozialen, kulturellen und ökonomischem Kapi­tal ausgestattet sind, durchaus auch an dem offenen Angebot der vhs teilnehmen. Für die anderen ist ein Übergang in die offenen Angebote aus den Deutsch­kursen nur dann realistisch, wenn sie zeitlich entlastet werden (zum Beispiel durch Kinderbetreuung) oder die Inhalte etwas mit ihren persönlichen Interessen oder Zielen zu tun haben (Lebenswelt- und Bedarfs­orientierung). Ferner müssten die Kurse sprachlich so aufbereitet sein, dass die Teilnehmenden mit einem B1-Niveau überhaupt folgen können (Sprachsensibi­lität), und zudem die Kosten so niedrig sein, dass sie in einem realistischen Verhältnis zu ihren oft prekären Einkommen stehen (Kostenreduktion).

Was ist Ihre Vision für eine vhs in der Migrationsgesellschaft?

Heinemann: Eine vhs der Zukunft ist nicht allein auf die Klugheit und das Geschick ihrer Fachbereichsleitungen an­gewiesen, wenn es darum geht, gute Angebote zu konzipieren. Vielmehr sollte sie eine Einrichtung sein, in der auf allen Ebenen Personen tätig sind, die die regionale Diversität selbst repräsentieren und die gut mit den jeweiligen Community -Gruppen vor Ort vernetzt sind. In Zusammenarbeit mit diesen Gruppen sollten dann spannende bedarfsgerechte Bildungsräume und -gegenstände zur Verfügung gestellt werden, die an die Ursprungsidee „Benach­teiligungen ausgleichen und Demokratie fördern“ anknüpfen. Das schließt Angebote zur persönlichen Weiterentwicklung, Gesundheit, Kunst etc. nicht aus.

Sehr sinnvoll fände ich auch – wie es die Stuart Hall in Birmingham gemacht hat – eine engere Koope­ration mit Universitäten, sofern diese räumlich gut erreichbar sind. Während Universitäten oft fehlende Praxisnähe unterstellt wird (zu ‚abgehoben‘ und reali­tätsfern), wird Angeboten der vhs oft ein Mangel an inhaltlicher Tiefe zugeschrieben. Eine engere Zusam­menarbeit könnte beiden Institutionen helfen, brei­tere Akzeptanz zu erreichen, um ihre gesellschaftli­chen Aufgaben noch besser erfüllen zu können. In Bremen gibt es dazu schon erste Vorgespräche zwi­schen Universität und Volkshochschule.

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