von Sabine Giehle
Komplizierte Ausgangslage
Es ist kompliziert. Das schöne alte Fachwerkhaus mit dem Namen „Alte Volkshochschule“ steht mitten in einem ruhigen, gut bürgerlichen Wohngebiet in Wiesenstädt. Die Nachbarschaft ist genervt: Wer da so alles ein und aus geht, passt nicht jedem. Und außerdem ist es zu laut, vor allem abends und nachts. Aber auch die Gruppen, die sich in der Alten Volkshochschule regelmäßig treffen, sind einander nicht grün. Der wohlsituierte Herrenkochclub „Langer Löffel“ stört sich daran, dass offenbar andere Gruppen sein hochwertiges Equipment nutzen, die Jugendlichen der Band „Meadow Town“ wollen ungestört proben, feiern und Freunde treffen und die Yoga-Gruppe „Zur Gelassenheit“ möchte vor allem eins: Ruhe.
Auf diese nicht ganz einfache Ausgangslange trafen 19 Schüler*innen eines Speyerer Gymnasiums, die sich angemeldet hatten, um an einem Planspiel zum gesellschaftlichen Zusammenhalt teilzunehmen.
„Mit dem Workshop wollten wir erreichen, dass die Jugendlichen Verständnis für die Interessen anderer entwickeln, die daraus entstehenden Konflikte friedlich lösen und Regeln für das gemeinsame Zusammenleben entwickeln“, erklärt Michaela Peters von der Volkshochschule Speyer, die den eintägigen Workshop organisierte. Dazu führte die vhs Speyer gemeinsam mit der vhs Bad Dürkheim das vom DVV entwickelte Planspiel zusammenleben. zusammenhalten. (Öffnet in einem neuen Tab) durch.
Persönlichkeiten erschaffen
„Die Jugendlichen wussten erst einmal nichts über das konkrete Setting“, erzählt Peters. Nach Klärung der Ausgangslage wurden die Teilnehmer*innen den verschiedenen Interessengruppen zugelost. Klar war, welche Leute zu den unterschiedlichen Gruppen gehören: Die Nachbarschaft zum Beispiel besteht aus älteren Ehepaaren, Familien mit Kindern, Selbstständigen und Angestellten im öffentlichen Dienst. Der Herrenkochclub hat vor allem Anwälte, Ärzte und Unternehmer als Mitglieder. Auch die Interessen sind klar und vorgegeben. „Die Profile der einzelnen Personen und ihre Charaktereigenschaften mussten sich die Teenager aber selbst erschaffen“, erläutert Peters.
Gemeinsam Regeln entwickeln
Bei einer Hausversammlung trafen nun alle aufeinander. Geladen hatte die Bürgermeisterin Wiesenstädts, deren Rolle eine Referentin übernahm. Nachdem die Beschwerden sich häuften, will sie die leidige Situation beenden. Während der Versammlung konnte jede Gruppe vortragen, welche Probleme sie mit den anderen hat und was sie sich für sich selbst wünscht.
Ziel des Treffens war es, einen Hausnutzungsplan zu erstellen und gemeinsame Regeln zu entwickeln, mit denen alle leben können. Angespornt wurde die Bereitschaft zur Kooperation durch die Ankündigung der Bürgermeisterin, dass die schöne Alte Volkshochschule verkauft werden müsse, wenn das nicht klappe. Die Vorarbeit machten die Teams in Kleingruppen. Im Plenum wurde dann für die eigenen Vorstellungen argumentiert.
Die Jugendlichen machten Vorschläge, wer wann sinnvollerweise die Räume nutzen sollte, sodass man sich möglichst gegenseitig nicht störe. Putzdienste, Ruhezeiten und Sanktionen bei Regelverstößen sollten die Konflikte befrieden.
Mehrheiten für eigene Vorstellungen finden
Welcher Plan und welche Regeln gelten sollten, darüber stimmten die Teenager am Ende ab. Per Mehrheitsbeschluss kamen sie zu dem Ergebnis, dass zum Beispiel der Yoga-Kurs dann stattfinden solle, wenn sonst niemand im Haus sei. Und die Nerven der Nachbarn sollten geschont werden, indem an den Treffen der Band maximal zehn Leute teilnehmen dürfen und sie spätestens um 22 Uhr ihre Proben beenden muss.
Wer setzt sich durch?
So schön es ist, eine Lösung gefunden zu haben, es blieb doch die Frage: Sind alle damit zufrieden? Mittels Selbst- und Fremdeinschätzung reflektierten die jungen Leute, wer seine Interessen am erfolgreichsten durchsetzen konnte und wer die meisten Kompromisse eingehen musste: Zufrieden war die Nachbarschaft und auch die Yoga-Gruppe hatte ihr Ziel erreicht. Der Herrenkochklub bekam eine verbindliche Nutzer*innenliste und eine Versicherung für seine Ausrüstung. Die meisten Kompromisse mussten hingegen die jugendlichen Musiker*innen eingehen: Dass die Band zu laut sei und zu viel Ärger mache, darüber waren sich alle anderen „Erwachsenen“ schnell einig.
Die Stillen zum Sprechen bringen
Und was bedeutet das für das „richtige Leben“? Im Rahmen einer „stillen Diskussion“ konnten die Jugendlichen auf Flipcharts aufschreiben, wie ihrer Meinung nach allgemeine Regeln beschaffen sein sollten, die von allen akzeptiert werden können. Oder was eine Gruppe tun kann, wenn sich einzelne nicht an die Regeln halten. „Das war eine gute Sache“, erinnert sich Peters. „Schließlich ist nicht jede und jeder dafür gemacht, sich vor allen anderen zu äußern. Durch die ‚stille Diskussion‘ konnten sie trotzdem einen wertvollen Beitrag leisten.“
Die Ergebnisse wurden ins Plenum getragen und reflektiert. Sie waren die Basis für den nächsten Schritt: zu schauen, welche Normen das Grundgesetz mit Blick auf das Zusammenleben beitragen kann.
Menschenwürde als Grundlage
Der Transfer der gefundenen Erkenntnisse auf das Grundgesetz ist ein fakultativer Punkt bei der Umsetzung des Planspiels. „Gerade für die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten war aber dieser Punkt ganz wichtig“, erinnert sich Peters. „Das haben sie uns am Ende zurückgemeldet.“
Die jungen Leute stellten ihren „Lieblingsartikel“ der im Grundgesetz enthaltenen Grundrechte vor und begründeten ihre Wahl: „Die meisten entschieden sich für Artikel 1: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‛. Das sei die Grundlage dafür, andere zu respektieren und ernst zu nehmen und damit die Grundlage für ein gutes Miteinander.“
So haben die jungen Leute gemeinsam herausgearbeitet, was die Mütter und Väter der deutschen Verfassung im Sinn hatten: Die Grundlage einer demokratischen Gesellschaft ist die Anerkennung der Menschenwürde. Aus dieser ergeben sich und auf ihr gründen alle weiteren Regeln des Zusammenlebens und des Zusammenhalts in einer freiheitlichen Gesellschaft. In Speyer konnten die jungen Teilnehmer*innen dies spielerisch nachvollziehen und erleben, was es bedeutet, Konflikte friedlich zu lösen und gemeinsame Regeln zu finden.