Von Almut Büchsel
Welchen Grenzen begegnen Lerner*innen im Deutschunterricht? Was bildet unser Unterricht ab – und was nicht? Und warum ist das überhaupt relevant?
Mit diesen drängenden Fragen waren die Berliner Volkshochschulen – wie viele andere auch – seit Anfang des Jahres 2016 konfrontiert. In Berlin hatten sich allein im Jahr 2017 über 50.000 Menschen in Deutschkursen der Volkshochschulen angemeldet. Unweigerlich stellt sich da in der Praxis die Frage: Welche Bilder vermitteln wir unbewusst oder bewusst über das Sprachenlernen von unserer Gesellschaft – und wohin führt diese Vermittlung? „Familie“, „Arbeitswelt“, „in der Schule“ sind geläufige Kapitelüberschriften in Standardlehrwerken. Was aber ist eigentlich eine „Familie“? Und sieht die „Arbeitswelt“ wirklich für jede oder jeden gleich aus?
Eine erste Orientierung bietet das bundesweite Rahmencurriculum für Integrationskurse. Ziel der Deutschkurse auf Grundstufen-Niveau soll es sein, Deutschlerner*innen zu befähigen, „im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe und Chancengleichheit“ am gemeinschaftlichen Leben in Deutschland zu partizipieren. Das Sprachenlernen ist also ein Mittel, um Partizipation durch Kommunikation zu erreichen.
Eine entscheidende Antwort darauf, wie wir solchen an Teilhabe orientierten Deutschunterricht gestalten können, greift die eingangs gestellte Frage auf: Was vermitteln wir nicht? Wo setzen wir Grenzen, die ein unvollständiges Bild unserer Gesellschaft schaffen – und die langfristig zu Irritationen führen? Denn, wie können wir Teilhabe durch Sprachenlernen herstellen, wenn wir ein falsches Bild von der Gesellschaft vermitteln, an der wir Teilhabe versprechen?
Die Lücke zur Lebensrealität schließen
Schnell fallen zentrale „Lücken“ ins Auge, an denen Lehrwerke wichtige Teile unserer gesellschaftlichen Realität auslassen. Zwei zentrale Beispiele: Während 2016 in einem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes nur 44,8 Prozent der Familien verheiratete Elternteile hatten, stellt diese Form des Zusammenlebens in Deutschlehrwerken häufig noch die einzige Norm dar. Auch dass LSBT*I-Lebensrealitäten (lesbisch, schwul, trans* und inter) in Deutschland sichtbare Wirklichkeit sind, wurde zwar in einer ersten institutionellen Wende 2015 im überarbeiteten Rahmencurriculum für Integrationskurse verankert – jedoch kaum in der Praxis umgesetzt. Im Grundwortschatz B1 fehlen Wörter wie „lesbisch“, „homosexuell“ oder „alleinerziehend“ gänzlich.
Genau an dieser Stelle wurde von den Berliner Volkshochschulen ein Versuch gestartet, Abhilfe zu schaffen. Eine ressort- und bezirksübergreifende Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der Senatsverwaltungen und Erwachsenenbildner*innen mit dem Titel „Wertedialog“ wurde gegründet, die sich schnell einig war: Nur neues Lehrmaterial kann die Lücke zwischen Deutschunterricht und Lebensrealität schließen. Gemeinsam mit dem Hueber Verlag machten sich die Berliner Volkshochschulen auf den Weg, mit „Vielfalt leben“ das erste Zusatzmaterial für den DaZ-Unterricht zu schaffen, das sich von Beginn an Themen der Geschlechtergerechtigkeit und Rollenvielfalt widmet.
Im Dialog für mehr gelehrte Vielfalt im Deutschkurs
Die Gefahren bei der Erstellung solcher Materialien sind offensichtlich: Warum ein zusätzliches Lehrwerk, warum nicht bestehende, kurstragende Lehrwerke zu einem inklusiven, realistischen Abbild unserer Gesellschaft machen? Wie be- und verhandelt man didaktisch sinnvoll komplexe Themen auf dem Sprachniveau A1 und A2, auf dem der Wortschatz zu Beginn kaum über „wie geht’s?“ und „Ich wohne in Berlin“ hinausreicht? Und wie steht es um die Zielgruppe solcher Materialien? Richten wir uns hier in erster Linie an pädagogische Fachkräfte, auch in der Verwaltung großer Bildungsinstitutionen, die „ihre“ Kurse für gesellschaftliche Vielfalt öffnen müssen? Oder stereotypisieren wir durch solches Zusatzmaterial eine extrem heterogene und komplexe Gruppe an Deutschlerner*innen, denen wir vermeintlich Themen wie Gleichstellung und Homosexualität „vermitteln“ wollen?
Zentral bei der Beantwortung dieser Fragen war eine dialogische Herangehensweise. Anstatt zu vermitteln, hörten die Berliner Volkshochschulen zunächst zu. Kursleiter*innen und queere Migrant*innen-Selbstorganisationen wurden in die Materialentwicklung einbezogen, auch die sexistische, homo-/bi-/trans*-feindliche und rassistische Diskriminierung, welche Deutschlerner*innen am eigenen Leib täglich erfahren, wurde thematisiert. Neben einer Vielfalt des Zusammenlebens galt es, Diskriminierung im Beruf, in der Ausbildung, in Institutionen und auf dem Wohnungsmarkt nicht nur kritisch zu behandeln, sondern auch Möglichkeiten des Empowerments aufzuzeigen und Beratungsstellen zu nennen, die unterstützen können. Und trotz des additiven Charakters, den die Zusatzmaterialien unumgänglicher Weise haben, sollen Inhalte möglichst implizit in bestehende Lernprozesse eingebettet werden. Letzteres wurde umgesetzt, indem die einzelnen Handlungsfelder der Materialien thematisch eng mit Lektionen kurstragender Lehrwerke verknüpft wurden – um so einen fließenden Wechsel zwischen Zusatzmaterial und Hauptlehrwerk zu ermöglichen.
Nur der erste Schritt hin zu mehr Partizipation durch Deutschlernen
Mit „Vielfalt leben“ haben die Berliner Volkshochschulen begonnen, Lücken zwischen gelebter Realität in Deutschland und vermittelter Realität im Deutschunterricht zu schließen und so einen Schritt hin zu mehr Partizipation durch Deutschlernen zu gehen. Dass Unterrichtsmaterialien hier nur ein erster Schritt sein können, ist offensichtlich. Die nächsten aber sind schon in Arbeit: Auf dem Book Launch von „Vielfalt leben“ wurde Interesse und breite Resonanz in der Fachöffentlichkeit geweckt. Als nächstes soll auch das pädagogische Personal zusätzliche Methodenkompetenz erwerben können, um mit den „neuen“ Inhalten pädagogisch sensibel umzugehen: in Arbeit sind eine Lehrkräfte-Fortbildung wie auch eine Handreichung für Lehrer zur Erarbeitung von Methodenkompetenz in der Anwendung von „Vielfalt leben“.
Almut Büchsel ist wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin der Geschäftsstelle Integration der Berliner Volkshochschulen.
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Almut Büchsel: Vielfalt leben, Hueber Verlag, ISBN 978-3-19-381081-6
Umfang: 28 Seiten, 5,00 € zzgl. Versand