von Dr.in Helle Becker
Mit dem Demokratieführerschein kann man Kommunalpolitik machen
Vielleicht schlummerte in Mohamed schon immer ein FDP-Politiker. Wir wissen es nicht. Was wir wissen, ist, dass Mohamed zu einer Gruppe junger Leute gehört, die in der Stadt Lingen dafür gesorgt hat, dass der Abenteuerspielplatz "Wunderland" ausgebaut wird. Und dass Mohamed anschließend für die FDP bei den Stadtratswahlen kandidierte. Und wie das kam, wissen wir auch.
Wie alles begann: Mit einem Kurs der vhs
Angefangen hat alles mit einem Volkshochschulkurs. Die vhs Lingen bot einen „Demokratieführerschein” an, ein Angebot, in dem Jugendliche ein kommunalpolitisches Projekt ihrer Wahl mit Unterstützung von erfahrenen Teamer*innen bearbeiten konnten. Dabei sollten sie die Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen von Stadtverwaltung und Kommunalpolitik kennenlernen. Sie sollten am Ende der 30 Stunden demokratische Entscheidungsprozesse nachvollziehen und die Rolle von Medien und Öffentlichkeit einschätzen können. Nicht zuletzt sollten sie in der Lage sein, sich aktiv an kommunalpolitischen Entscheidungen zu beteiligen. Dafür würde es den „Demokratieführerschein” geben, ein Zertifikat, welches das Gelernte schwarz auf weiß dokumentiert.
So weit die Theorie. Jürgen Blohm, Programmbereichsleiter für Gesellschaft und Politik der vhs, warb für das Angebot auch beim Abenteuerspielplatz „Wunderland” des Arbeiterwohlfahrt-Kreisverbands Emsland, einem offenen Stadtteiltreff für Kinder und Jugendliche im Stadtgebiet Goosmannstannen. Man kennt sich, hier bietet die vhs schon Integrationskurse für Mütter an. Jürgen Blohm fand gemeinsam mit Wunderland-Mitarbeiter Daniel Sielaff neun interessierte Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren, die gern einen Demokratieführerschein erwerben wollten. Für vhs-Referent David Hagenbäumer war die Sache fast ein Selbstläufer. Denn ihr Anliegen hatten die zwei jungen Frauen und sechs jungen Männer schnell gefunden: Ihr Treff!
Das Anliegen lag vor den Füßen
Goosmanntannen ist kein gesegnetes Viertel. „Außer `Neue-Heimat-Bauten´ und Bushaltestellen gibt es hier wenig”, erklärt Daniel Sielaff. Viele Bewohner*innen des Viertels sind arbeitslos, der Anteil der Migrantinnen und Migranten ist hoch. Die Infrastruktur ist überschaubar: kein Lebensmittelgeschäft, keine Gaststätte, der letzte Kiosk hat schon vor Jahren geschlossen. Im „Wunderland” spiegelt sich die Bevölkerung des Viertels: 85 Prozent der Treffpunktbesucher*innen kommen aus dem Libanon, Polen, Russland und der Türkei. Ein bisschen „vergessen” sei die Einrichtung sagt Sielaff. Aber sie ist für viele die einzige Möglichkeit, sich nach der Schule zu treffen, etwas zu unternehmen oder einfach abzuhängen. Nur: Der eine große Raum bietet viel zu wenig Platz für den täglichen Andrang und er ist zu laut, beispielsweise für die Hausaufgabenhilfe. Die neun Jugendlichen fanden, dass sie an diesem Thema nicht vorbeikommen. Aber was könnten sie denn schon ausrichten? Für „solche wie sie” gibt die Stadt doch kein Geld - da war man sich eigentlich sicher. David Hagenbäumer und Daniel Sielaff mussten erst einmal Überzeugungsarbeit leisten.
Kundiges Engagement
An fünf Wochenenden, mal in der Volkshochschule, mal im Treff, beschäftigte sich die lebhafte Gruppe dann mit Unterstützung von David Hagenbäumer mit dem, was man braucht, damit man Gehör findet: Welche Parteien sind im Stadtrat? Wer hat über eine Erweiterung des Abenteuerspielplatzes zu bestimmen? Wer ist in der Verwaltung zuständig? Wie können wir unser Anliegen überzeugend beschreiben und vortragen? Und wie soll denn ein Treff aussehen, der den Bedürfnissen der Nutzer*innen entspricht?
Nach gemeinsamer Recherche, Expert*innengesprächen und Rollenspielen bereiteten Anja, Zeinab, Rudolf, Arjuna, Mohamed, Mahmoud, Hassan, Gino und Hussein ihre Präsentation mit Problembeschreibung und Lösungsvorschlägen vor. Der Stadtrat wurde in den Treff eingeladen und die Presse informiert. Noch immer waren die Jugendlichen skeptisch: „Das wird nichts, auf uns hört ohnehin niemand, unser Ruf ist so schlecht”, war Gino überzeugt. Auch Mohamed fand, dass sie ihre Zeit sinnvoller nutzen könnten.
Aber zur Überraschung der Jugendlichen kam der Oberbürgermeister und brachte gleich noch Vertreter dreier Ratsfraktionen mit. Die waren sichtlich begeistert vom kundigen Engagement der Jugendlichen. Jetzt wurde es ernst. Auch wenn Mahmoud immer noch unkte: „Ein Anbau kostet Geld, das die da oben für uns nie aufwenden werden!” Die Grupep wurde in den Jugendhilfeausschuss eingeladen, hatte ein Gespräch mit der Stadtkämmerin, war bei der Abstimmung der Fraktionen dabei und marschierte zum Planungsamt, um dort ihr Konzept einer Erweiterung des Treffs zu erläutern. Aus der Idee des Anbaus wurde der Plan eines Neubaus direkt neben dem alten Gebäude auf städtischem Gelände. Um Kosten zu sparen, boten die Jugendlichen ihre Mithilfe beim Bau an.
Optimistische Aussichten
Inzwischen haben alle Gremien positiv entschieden – der Bau soll bis Herbst 2012 stehen. Die neun aus dem Wunderland sind angespannt. Sie beobachten jeden politischen Schritt. Erst wenn es wirklich losgeht, sind sie sicher, dass sie Erfolg hatten. Alle werden mit Hand anlegen, da ist sich Daniel Sielaff sicher. Alle haben inzwischen eine Ausbildung begonnen. Einige hatten ihr Zertifikat des Demokratieführerscheins zur Bewegung gelegt. Aber die Jugendlichen sind auch mächtig stolz. Sie sind an diesem Projekt gewachsen. Ganz Lingen hat mitbekommen, dass die in Goosmannstannen etwas auf die Beine stellen können. Die Lingener Presse titelte: „Einmischen lohnt!”
Und Mohamed? Der hatte doch geglaubt, dass das alles nicht klappt. Aber er hatte gekämpft, und das hatte beeindruckt. Er wurde vom Vorsitzenden der Lingener Stadtratsfraktion der FDP angesprochen, ob er nicht bei den bevorstehenden Stadtratswahlen kandidieren wolle. Nun sah man den 18-Jährigen in Goosmannstannen auch noch auf Plakaten: einen von uns!
Wie gesagt: Vielleicht schlummerte in Mohamed schon immer ein FDP-Politiker. Wir wissen es nicht. Fest steht, dass der Demokratieführerschein ihm die Gelegenheit gab, sein politisches Engagement zu entdecken. Und was war sein Wahlspruch? „Wer heute nichts tut, lebt morgen wie gestern!” Genau!
Quellenangabe
Weitere Entwicklung
2015 setzte die vhs Lingen erneut ein Demokratieführerschein-Projekt um. Die Jugendlichen, die daran teilnahmen, setzten sich für die Umgestaltung des Bolzplatzes Goosmanns-Tannen ein, der nach ihren Vorstellungen erneuert werden sollte. Nachdem dieses Vorhaben jedoch nicht realisiert werden konnte, erklärte sich die AWO dazu bereit, den notwendigen Platz auf dem „Abenteuerspielplatz Wunderland“ zur Verfügung zu stellen. Schlussendlich lohnte es sich also, dass die Jugendlichen nicht aufgaben, denn im Sommer konnten sie dann die Früchte ihrer Arbeit ernten: Der neue Bolzplatz wurde eingeweiht!
Mehr dazu können Sie in einem Beitrag der Neuen Osnabrücker Zeitung lesen: