von Prof. Dr. Ursula Münch
Die Digitalisierung und die digitale Transformation sowohl ganzer Wirtschaftszweige als auch unserer Demokratie beschäftigen selbstverständlich auch die Politische Bildung und die Politische Jugendbildung. Aus gutem Grund: Die Digitalisierung verändert weit mehr als „nur“ die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt, das Medien- und Bildungssystem, das Verkehrswesen oder unser Kommunikationsverhalten. Die Digitalisierung verändert auch die politischen Prozesse sowie die normativen Grundlagen von Politik, also die Demokratie selbst.
Der freiheitliche öffentliche Diskurs als zentrale Grundlage der Demokratie
Damit eine Demokratie das leisten kann, wodurch sie sich gegenüber allen anderen Staatsformen auszeichnet, benötigt sie einen freiheitlichen öffentlichen Diskurs. Durch diesen Diskurs, der in einer Massengesellschaft immer über die Massenmedien vermittelt wird, nehmen sich die Bürgerinnen und Bürger als Teile des Gemeinwesens, als Demos, wahr. Dieser Diskurs hilft, immer wieder aufs Neue zu klären, welche Probleme und Herausforderungen in der Gesellschaft bestehen. Im Idealfall werden diese Themen dann – vermittelt über die intermediären Organisationen (Parteien, Verbände, Bürgerinitiativen, Medien etc.) – von den staatlichen Institutionen aufgegriffen. Die Mitglieder eines demokratischen pluralistischen Staates sind also keineswegs nur passive Adressaten der politischen Entscheidungsträger, sondern sie prägen den öffentlichen Diskurs mit. Nicht nur das Grundgesetz und unsere Institutionenordnung sind die Grundlagen unserer Demokratie, sondern offenkundig auch das möglichst unverfälschte Funktionieren des öffentlichen Diskurses.
Genau an dieser Stelle kommen die Veränderungen durch die digitale Kommunikation ins Spiel: Da der öffentliche Diskurs für die Demokratie so wichtig ist, wirkt es sich zwangsläufig auf die Demokratie aus, wenn sich Form und Inhalte der Kommunikation im Zuge der Digitalisierung dramatisch verändern. In der Folge kommen auch auf die Politische Bildung neue Inhalte zu: Sie muss zum Beispiel auf den Bedeutungsverlust der früher so einflussreichen „Gatekeeper“, also von Journalisten und Redaktionen, reagieren. Während selbst politisch Uninteressierte in der alten Medienlandschaft aus öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und Presse nahezu unvermeidlich auch mit politisch relevanten Inhalten konfrontiert wurden, ist es heute leicht möglich, trotz Dauermedienkonsums vollständig politikabstinent zu leben. Noch wichtiger ist aber etwas anderes: Die veränderten digitalen Kommunikationsformate und deren Gesetzmäßigkeiten bergen zum einen die Gefahr, dass der freiheitliche öffentliche Diskurs manipuliert oder verzerrt wird. Zum anderen geht der Gesellschaft durch die Demokratisierung und Dezentralisierung der Kommunikation – plötzlich können alle „Sender“ sein – der gemeinsame Diskursraum verloren: Menschen bewegen sich am liebsten in Räumen, in denen sie auf Ihresgleichen stoßen. Unter den Bedingungen digitaler Kommunikation ist das noch einfacher als im Analogen. In der Folge werden wir immer weniger mit den Meinungen anderer konfrontiert und können stattdessen die Bestätigung unserer Position in den „Gatekeeper“-freien Zonen suchen; also dort, wo nicht moderiert, sondern zugespitzt, übertrieben und bewusst gelogen wird.
Daraus ergeben sich Gefahren für die Demokratie, und daraus ergibt sich ein unmittelbarer Auftrag an die Politische Bildung und vor allem die Jugendbildung: Politische Bildung kann und muss die Mechanismen und das Geschäftsmodell digitaler Plattformen sichtbar und anschaulich machen – und sie muss dies tun, ohne die Digitalisierung zu verteufeln.
Die Debatte über Meinungsfreiheit unter den Vorzeichen digitaler Kommunikation
Das in unserer Gesellschaft immer schon vorhandene Potential an anti-demokratischem, antisemitischem und rassistischem Denken fühlt sich zurzeit im Aufwind und wird durch populistische und z.T. sogar extremistische Einreden darin bestärkt, sich lautstark zu artikulieren. Dieser Teil der Gesellschaft, der größer zu werden scheint, hat durch die Erfolge der AfD und die Veränderungen des öffentlichen Diskurses und dessen, was „sagbar“ ist, eine politische Heimat gefunden und fühlt sich deshalb ermutigt, Dinge zu äußern, die man vor 20 Jahren aus gutem Grund für sich behalten hätte.
Wir beobachten derzeit eine irritierende Interpretation von Meinungsfreiheit: In einem Teil der Öffentlichkeit wird Meinungsfreiheit als Recht interpretiert, buchstäblich alles sagen zu dürfen – ohne die Einhaltung von Konventionen und ohne jede Rücksichtnahme. Die darin zum Ausdruck kommende Rücksichtslosigkeit bzw. der formulierte Hass werden als berechtigte Auflehnung gegen angebliche oder tatsächliche „politische Korrektheit“ verbrämt. Diese (sprachliche) Verrohung führt dazu, dass ein anderer Teil der Öffentlichkeit ebenfalls – aber aus völlig anderen Gründen – zur Einschätzung kommt, sich nicht mehr frei äußern zu können: Und zwar aus Sorge vor den völlig überzogenen Reaktionen von Teilen der Öffentlichkeit (die weitgehend identisch mit der erstgenannten Gruppe sein dürften).
Wir stehen also vor der besorgniserregenden Situation, dass der für eine freiheitliche Demokratie elementare öffentliche Diskurs tatsächlich beeinträchtigt wird. Jedoch nicht durch angebliche Redeverbote, sondern vor allem durch die unzutreffende Annahme, die vermeintliche Einschränkung der Meinungsfreiheit berechtige sogar zur systematischen Grenzüberschreitung gegenüber anderen Teilnehmern der öffentlichen Debatte.
Die richtigen Fragen stellen
Wir sind Zeugen nicht nur einer Verrohung der Sprache und des Umgangs mit Mandats- und Amtsträgern, sondern wir sind auch Zeitzeugen von zunehmender Gewalt gegen Andersdenkende, Andersgläubige und Andersaussehende. Natürlich sind die digitalen Kommunikationsformen nicht die Ursachen von Verrohung und Gewaltbereitschaft gegen Menschen. Aber: Das Geschäftsmodell der digitalen Plattformen und Netzwerke fördert diese Verhaltensweisen, die nicht die Betroffenen schädigen, sondern unser Gemeinwesen. Es ist wichtig, gerade die Jüngeren, die den Vergleich zur alten Medienwelt nicht herstellen können, auf die problematischen Mechanismen der digitalen Kommunikation aufmerksam zu machen.
Dabei hat die Politische Bildung aber nicht nur die Aufgabe, diese (technischen) Mechanismen zu beleuchten. Sie muss diesen Aspekt vor allem verbinden mit einer grundlegenden Frage: Cui bono? Wem nutzt die Zuspitzung in den öffentlichen Debatten, wer profitiert von der Einschüchterung politischer Mandats- und Amtsträger in den digitalen Medien, und welche Absichten verbergen sich hinter der Verächtlichmachung unserer demokratischen Institutionen?
Wenn Politische Jugendbildung auf „Digital Natives“ trifft
In einer durch Zuwanderung und eine heterogener werdende Schülerschaft geprägten Gesellschaft erscheint es besonders wichtig, die Werte, Verfahren und Normen der freiheitlichen Demokratie durch schulische und außerschulische Bildungseinrichtungen zu vermitteln. Ohne die Welt der klassischen Medien beschönigen zu wollen, die zweifelsohne auch Verzerrungen aufwies, muss sich gerade die Politische Jugendbildung dieses fundamentalen Wandels bewusst sein. Wenn es immer leichter fällt, sich vor allem im Kreis Gleichgesinnter zu bewegen und auszutauschen, dann muss Politische Bildung mehr denn je für Kontroversität und damit für die den auch strittigen Austausch mit anderen Interessen und anderen Meinungen sorgen.
Darüber hinaus bietet die Verbindung von Politischer Bildung mit dem Thema Digitalisierung den Akteuren der politischen Bildung eine großartige Gelegenheit. Sie können den Austausch gerade auch mit jungen Leuten über die Risiken und Chancen der Digitalisierung dazu nutzen, nicht nur zu belehren, sondern auch selbst etwas zu lernen: über die unterschiedlichen digitalen Plattformen und Netzwerke, deren „Helden“, deren Themen, deren Funktionsweisen und sogar deren Geschäftsmodelle.