Inhalt anspringen

Deutscher Volkshochschul-Verband

„Wir lassen uns von einem Virus nicht die Stimme nehmen“

Interview mit zwei Jugend-Expert*innen zur Teilhabe von Kindern und Jugendlichen in Zeiten von Corona

Es ist Mitte Juli 2021, die Sommerferien haben begonnen bzw. stehen vor der Tür. Die Redakteurin Katharina Reinhold spricht in einer Videokonferenz mit zwei jugendlichen Expert*innen über ihre Erfahrungen während der Covid-19-Pandemie, die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, ihre Mitspracherechte und ihren Blick in die Zukunft.

Die Gesprächspartner*innen:

Lena Lange ist 18 Jahre alt, Schülerin und lebt in Bad Homburg-Friedrichsdorf in der Nähe von Frankfurt am Main in Hessen. Sie ist Abgeordnete im Kreis- und Stadttag sowie Vorsitzende der Initiative „Jugend wählt“, die sich für die bundesweite Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre einsetzt. 

Amir Sallachi ist 17 Jahre alt, Schüler und lebt in Krefeld in Nordrhein-Westfalen. Dort gehört er zum Vorstand des städtischen Jugendbeirats und ist Mitglied des Jugendhilfe-Ausschusses. Er engagiert sich in verschiedenen weiteren Organisationen für mehr Chancengerechtigkeit und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen. 

Wie haben Sie die Pandemie persönlich erlebt?

Amir Sallachi: Ich musste Mitte März 2020 einen USA-Aufenthalt sehr kurzfristig wegen der ausbrechenden Pandemie abbrechen und nach Deutschland zurückkehren. Zu Hause ging es direkt mit Online-Unterricht und Homeschooling los. Auch in der Kommunalpolitik gab es keine Treffen mehr in Präsenz. Wenn ich die Zeit mit einem Wort beschreiben müsste, dann mit „dynamisch“, weil alles sehr aufwühlend und unsicher war. Mich hat sehr gestört, dass wir jungen Menschen in den Medien und in der Politik auf unsere Rolle als Schüler*innen oder Studierende reduziert wurden, statt uns als Individuen mit Wünschen und Sorgen wahrzunehmen. Der direkte emotionale Austausch, auch in der Schule, kam oft zu kurz.

Lena Lange: Für mich startete die Corona-Zeit auch mit einer großen Enttäuschung, denn ich hatte eine Podiumsdiskussion mit Kommunalpolitiker*innen und Jugendlichen geplant. Die Absage wegen des Lockdowns kam einen Tag, bevor die Veranstaltung stattfinden sollte. Privat hatte ich das Glück, dass ich mit meiner großen Familie – ich habe vier jüngere Geschwister – kurz vor dem Lockdown in ein großes Haus gezogen war, sodass wir genug Platz hatten. Das war in dieser Zeit ein riesiges Privileg. 

Die Pandemiezeit war dennoch emotional und psychisch belastend – nicht nur für mich, sondern für sehr viele, und besonders für junge Menschen. Mehrere meiner Freundinnen haben Depressionen bekommen. Ich kenne einige Kinder- und Jugendpsycholog*innen, die gerade total überlastet sind und keine Termine mehr vergeben können. Man sieht erst jetzt, was in der Zeit des Lockdowns und Homeschoolings alles passiert ist. Jetzt werden die Studien über häusliche Gewalt, sexuelle Übergriffe und psychische Erkrankungen veröffentlicht. 

Wie hat sich die Pandemie auf Ihr politisches Engagement ausgewirkt?

LL: Ich bin Vorsitzende der Initiative „Jugend wählt“. Wir haben uns Anfang 2020 quasi komplett digital gegründet. Am Anfang hatten wir ziemlich spontan mit 10 Leuten ein Kampagnenvideo gedreht, das dann auf Instagram viral ging und so bekamen wir in kurzer Zeit sehr viele neue Mitglieder aus ganz Deutschland. Dann haben wir uns als Gruppe formiert und eine Online-Mitgliederversammlung abgehalten. Dass wir jetzt bundesweit agieren können, haben wir dem digitalen Arbeiten zu verdanken, das ist eine positive Sache. 

Durch die Digitalität gehen aber auch viele Sachen verloren. Ich glaube, dass die Zwischenmenschlichkeit sehr gefehlt hat. Gerade im politischen Kontext braucht man politische Streitkultur, die online sehr schwierig auszutragen ist. Und auch die Effektivität leidet darunter. Dadurch, dass man eben nicht nebeneinander sitzt, ist es manchmal schwierig, Dinge schnell zu koordinieren.

AS: In der Anfangsphase erschienen viele digitale Programme komfortabel. Aber auch da hat sich die soziale Ungleichheit sehr bemerkbar gemacht. Ganz neue Fragen entstanden: Wer hat überhaupt die nötigen Geräte, um sich an neuen digitalen Formen des Aktivismus und des Engagements zu beteiligen – wer kann es sich erlauben, auch finanziell? 

Ich teile natürlich auch die positiven Erfahrungen. Man ist deutlich vernetzter, auch mit Jugendlichen überregional und aus anderen Bundesländern. Man hat die Möglichkeit zum Austausch mit unglaublich vielen pluralen Gruppen und vieles geht tatsächlich auch schneller. 

Wie sehen Sie neue digitale Formate des Protests und der Beteiligung, die während der Pandemie entstanden sind?

AS: Diese digitalen Aktionen, zum Beispiel von Fridays for Future oder Black Lives Matter, spiegeln die Kreativität unserer politisierten Generation wider. Wir lassen uns von einem Coronavirus, das sich verbreitet, nicht die Stimme nehmen. Wir haben trotzdem neue Ideen entwickelt, um unser Sprachrohr für wichtige Ideen und Ziele zu behalten, sodass Klimaschutz oder Antirassismusarbeit auf der Agenda bleiben. Das hat mich auch persönlich stolz gemacht, dass nicht nur über Corona geredet wurde, sondern dass auch gerade wir jüngeren Menschen konsequent über wichtige Themen sprechen. 

Findet das Engagement der Jugendlichen in der Politik Gehör?

LL: Nein, es wird leider trotz der kreativen Proteste konsequent missachtet, was die Bedürfnisse junger Menschen sind. Das lässt sich beispielhaft am schulischen Kontext festmachen. Das ist gefährlich. 

Man nimmt junge Menschen häufig nicht ernst in der Politik. Sie haben keine Einflussmöglichkeiten, keine Lobby – auch wenn ich den Begriff eigentlich nicht gerne verwende. Das ist ein Problem: Junge Menschen sind aktiv und laut im Internet. Aber die konkreten Handlungen, die auf diese Demonstrationen folgen müssten, bleiben weitestgehend aus. Deshalb hoffe ich, dass wir uns den Aktivismus und das Durchhaltevermögen beibehalten, dass wir weiterhin für das einstehen, was wir möchten. Ich hoffe aber auch, dass wir wieder auf die Straße können, wo wir gesehen werden – nicht nur von unserer eigenen Bubble und von jungen Menschen, sondern auch von älteren Generationen. Denn wenn wir auf der Straße sind und die anderen das wahrnehmen, übt das automatisch auch Druck auf die Politik aus.

Wie wird sich die Pandemie-Erfahrung auf die politische Beteiligung von Jugendlichen in der Zukunft auswirken?

LL: Ich finde, man kann als junger Mensch aktuell vor allem hoffen. Wir haben keine Instrumente, um politischen Druck zu erzeugen. Aber wir müssen doch irgendwann wieder mitreden können! Ich habe viele Ideen: Zum Beispiel sollte es in jeder Stadt Jugendbeteiligungsformate wie Jugendparlamente geben, und das Wahlrecht ab 16 ist aus meiner Sicht ein unumgehbarer Schritt, um Jugendliche langfristig politisch zu beteiligen. Ich hoffe sehr, dass gesehen wird, wie viele Folgen dieser Pandemie, und auch generell, von Jugendlichen getragen werden müssen. Und ich rede hier nicht nur von Schulden – die absolut riesig sind –, die von den jungen Menschen abbezahlt werden müssen. 

Der politische Aktivismus ist weiterhin superwichtig, um gehört zu werden. Nur so können wir langfristig Einfluss nehmen. Ich hoffe auch auf viele junge Abgeordnete im neuen Bundestag, die neue Perspektiven ins Parlament bringen. 

AS: Kommunen spielen eine wichtige Rolle dabei, Jugendliche zu erreichen. Es gibt dort Rahmenbedingungen, um sich zu engagieren. Doch auch hier stellt sich die Frage, wie man gerade den Kindern und Jugendlichen, die am stärksten von den Folgen der Pandemie betroffen sind, eine Stimme geben kann. Ich bin sehr dankbar, dass wir in meiner Stadt einen Jugendbeirat haben, der auch wirklich ernstgenommen wird und der viele Möglichkeiten bietet, politisch mitzumischen.

LL: Die digitalen Aspekte werden manchmal auch überschätzt. Wenn es jetzt heißt, wir ermöglichen digitale Partizipation, bedeutet das häufig: Es wird eine Online-Plattform zur Verfügung gestellt, oder Tools, mit denen man Abstimmungen durchführen oder Stimmungsbarometer erstellen kann. Aber das reicht in keinem Fall! Ich habe auch Angst, dass sich Politiker*innen dahinter verstecken und sagen: Guck mal, wir haben doch eine Internetseite! Aber diese wirkliche Partizipation, das Commitment, das man braucht, um etwas zu bewegen – denn man muss leider wirklich sehr hartnäckig sein, um etwas zu erreichen, auch in den Kommunen – das kriegt man nur durch Präsenzbeteiligung. Das wird erschwert durch Corona, einiges ist aber schon möglich. Viele junge Menschen sind ausgelaugt und haben keine Lust mehr auf Videokonferenzen, sie wollen Leute treffen. Deshalb finde ich es auch so falsch, immer davon zu sprechen, wie toll jetzt alles digital läuft und wie gut es mit der Digitalisierung vorangeht. Studien zu den Lernerfolgen während des Homeschooling machen ja auch eher skeptisch.

Sind Kinder und Jugendliche die Verlierer*innen der Pandemie?

AS: Ich würde sagen, dass junge Menschen in der Pandemie Leidtragende und Gewinner*innen zugleich sind. Leidtragende in dem Sinne, dass sie natürlich sehr viele Einschnitte in ihrem Leben erfahren mussten. Ein Jahr in der Jugend fühlt sich ganz anders an als ein Jahr im Leben einer 50-jährigen Person. Im März 2020 war ich 16, in ein paar Monaten werde ich 18. Das ist eine Zeit im Leben, die man nicht nachholen kann. Oder die Leute, die gerade ihren Schulabschluss gemacht haben: Sie hatten sich darauf gefreut, die Welt zu erkunden, zu studieren, zu reisen – das kam alles zu kurz. Außerdem denke ich an marginalisierte Gruppen, zum Beispiel Jugendliche mit Behinderungen. Sie sind auf einer ganz anderen Ebene betroffen. Probleme mangelnder Inklusion und sozialer Ungleichheiten bestanden schon vor der Pandemie, haben sich aber verschärft. Das Coronavirus ist ein Brennglas, das uns gezeigt hat, was schon vorher schiefgelaufen ist.

Ich glaube aber, dass unsere Generation auch positive Dinge aus dieser Zeit mitnimmt. Wir haben uns unter unvorstellbaren Bedingungen viele Kompetenzen angeeignet: zum Beispiel große Flexibilität und Selbstorganisation. Schule, Studium oder Job während der Pandemie zu bewältigen war eine große Leistung. 

LL: Ich glaube, dass man Jugendlichen in dieser Zeit relativ viel „angetan hat“ und dass wenig davon wirklich gute Auswirkungen auf die Jugend hat, so hart sich das anhören mag. Natürlich gab es gewisse Kompetenzen, die wir uns aneignen mussten. Aber ich hoffe, dass niemand mehr in die Situation kommt, unter so einem Druck und mit so einer emotionalen Belastung leben und arbeiten zu müssen. Ich glaube nicht, dass viele Jugendliche das nochmal so gut wegstecken könnten. Ich finde es immer schwierig zu sagen „Wir sind eine geschädigte Generation“ oder so, aber glaube, dass das schon viel mit jungen Menschen gemacht hat. Es sind große Unsicherheiten entstanden, zum Beispiel darüber, was man tun kann und was nicht, wem man noch vertrauen kann.

AS: Ich wehre mich immer sehr lautstark gegen die Bezeichnung „Generation Corona“ in den Medien, weil wir Jugendliche deutlich mehr sind als das. Wenn ich über Probleme allgemeiner Natur spreche, werden sie immer im Kontext der Pandemie beäugt – das stört mich. Wenn wir über die Auswirkungen und Folgen der Pandemie sprechen, sind die offensichtlichen Konsequenzen, die sich jetzt zeigen, schon schrecklich. Aber es gibt ja auch noch langfristige Folgen, die mir echt Sorgen machen: Ich denke da zum Beispiel an Konzentrationsschwierigkeiten, Angststörungen, Zukunftsunsicherheit, Perspektivlosigkeit, das Gefühl der Ohnmacht. 

Was wünschen Sie sich von politischen Entscheidungsträger*innen für die Zukunft?

AS: Ich wünsche mir, dass sie uns bei jeglichen Fragen, die uns mittelbar oder unmittelbar betreffen, miteinbeziehen. Und da gibt es unheimlich viele Felder, bei denen das der Fall ist: angefangen bei Schule und bei Klimaschutz, weil wir natürlich die Generation sind, die die Folgen ausbaden wird. Allerdings richtet sich mein Appell nicht nur an die Politik, sondern auch an die Medien, an die Gesellschaft. Ich erinnere mich an diese ganzen Talkshows, in denen sich der Minister und der Virologe gegenüberstanden und leidenschaftlich über Dinge diskutiert haben, die sie doch eigentlich gar nicht betreffen, sondern uns. Das ist bezeichnend. Ich habe die jugendliche Präsenz in den Debatten nicht gespürt. Das muss sich ändern.

Auch in Anbetracht der anstehenden Bundestagswahlen (Anm. der Redaktion: Das Interview wurde am 13.07.2021 geführt) wünsche ich mir sehr, dass unsere Generation im Wahlkampf und bei den Wahlen berücksichtigt wird. Das richtet sich sowohl an die Politik als auch an die Wählerschaft. Ich finde, dass diese Wahlen wichtiger denn je sind, weil wir uns inmitten von verrückten Zeiten befinden, in denen sich neue Fragen stellen: Was ist eigentlich normal? Wie wollen wir weiterleben? Ich wünsche mir, dass all das, worüber wir während der Pandemie leidenschaftlich diskutiert haben, nicht einfach über Bord geworfen wird, sondern dass es genutzt wird, um gestärkt und zukunftsorientiert für ein nachhaltiges Leben einzustehen und bei allen Entscheidungen die langfristigen Folgen abzuwägen.

LL: Ich finde eine Art von Kompensation für die Jugendlichen wichtig. Das kann zum einen ein Impfangebot sein – aber keine Impfpflicht! Es muss außerdem um das psychische und emotionale Wohl der jungen Menschen gehen. Es kann nicht nur darum gehen, dass sie Leistungs- oder Lernstoffdefizite aufholen. 

Ich wünsche mir, dass junge Menschen häufiger gefragt werden: Welche Bedürfnisse und Interessen habt ihr? Wie können wir euch in Zukunft stärker beteiligen? Wie könnt ihr künftig mitentscheiden, wenn es um die Verteilung von Geldern geht?  

Außerdem müssen die Kinderrechte ins Grundgesetz – das wurde ja leider trotz der katastrophalen Situation für junge Menschen während der Pandemie in dieser Legislaturperiode nicht geschafft!

Ich rede also nicht von einer Kompensation durch Geld – aber eben von solchen Dinge: uns ernstnehmen, auf uns zugehen, aktiv unsere Wünsche und Bedürfnisse erfragen. Diese Form von Generationengerechtigkeit brauchen wir jetzt.

Das Interview mit Lena Lange und Amir Sallachi führte Katharina Reinhold am 13. Juli 2021.

Erläuterungen und Hinweise

Bildnachweise

  • Lena Lange
  • Amir Sallachi
  • Katharina Reinhold