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Deutscher Volkshochschul-Verband

Kinderrechte in Zeiten von Corona

Die Rechte von Kindern und Jugendlichen werden gerade sehr stark eingeschränkt. Sie müssen zu Hause bleiben, Einrichtungen sind geschlossen und sie werden nicht an wichtigen Entscheidungen beteiligt. Wie können außerschulische Bildungsträger jungen Menschen in dieser Situation helfen? Ein Plädoyer von Michael Klundt

Einschränkungen der Grund- und Kinderrechte

Nach den bisherigen internationalen und nationalen Berichten und (Vor-)Untersuchungen lässt sich feststellen, dass Kinder ganz besonders unter den Einschränkungen durch Kontaktsperren, Bildungsexklusionen sowie Spiel- und Sportplatzverbote zu leiden haben bzw. hatten. Sie wurden überwiegend zuhause „eingesperrt“ und konnten ihre Freundinnen und Freunde sowie Verwandten plötzlich nicht mehr treffen. Außerdem waren ihnen alle Bildungs-, Betreuungs-, und Betätigungs-Einrichtungen geschlossen, sodass sie auch ihre Sorgen zum Beispiel Fachkräften gegenüber nicht mehr mitteilen konnten. Die Tatsache, dass sie dabei überhaupt nicht gefragt und weitgehend instrumentell behandelt wurden, gestaltet(e) ihre eingeschlossene und prekäre Situation noch schwieriger.
 
Seit über drei Jahrzehnten gibt es nun schon die UN-Kinderrechtskonvention. 1992 wurde sie von der Bundesrepublik ratifiziert und (mit Vorbehalten) als Bundesgesetz verankert. Seit 2010 gilt sie in Deutschland vorbehaltlos. In ihr verpflichten sich die Vertragsstaaten beispielsweise, dass bei „allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, das Wohl des Kindes (…) vorrangig zu berücksichtigen ist“ (Art. 3, UN-Kinderrechtskonvention). Daran gemessen, muss leider festgestellt werden, dass dies in der Praxis der vergangenen Monate weitgehend versäumt wurde.
 
Obgleich Bund, Länder und Kommunen auch in Zeiten der Covid-19-Pandemie zur vollumfänglichen Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet waren, kann deren Verletzung unschwer festgestellt werden. Nicht ausreichend ist dabei die regierungsamtliche Legitimation, Kinderrechte seien alleine als Rechte auf den (sicherlich begründeten) Schutz vor der Pandemie zu reduzieren. Die instrumentelle und vollständig beteiligungsfreie Behandlung von Millionen Kindern und Jugendlichen während der Corona-Krise lief vielmehr monatelang darauf hinaus, Kinderrechte buchstäblich als Schutz vor Kindern (als Viren-Verbreiter*innen!) zu begreifen. Dies fand weitgehend ohne Basis fundierter wissenschaftlicher Erkenntnisse statt, und mit den Maßnahmen wurde deutlich nicht nur gegen Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention verstoßen. Ob also die regierungsamtliche Kinderrechte-Politik der letzten dreißig Jahre sich somit nur als Symbolpolitik für Schönwetter-Zeiten erwiesen hat, lässt sich mit guten Gründen fragen. Und was angesichts dessen zum Beispiel aus dem Gesetzentwurf der Bundesjustizministerin für die Einführung von Kinderrechten ins Grundgesetz sowie dem zu erwartenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes in diesem Lichte wird, lässt sich schwerlich abschätzen.

Zwischen Mitte März und Anfang Mai 2020 wurden selbst die minimalsten kinderrechtlichen Grundlagen, wie der Kindeswohlvorrang, das Diskriminierungsverbot, das Recht auf Entwicklung und Spiel sowie das Recht auf Beteiligung, beinahe vollständig abgeräumt, ohne die geringsten Versuche, Kinder, Jugendliche und die Akteure der Kinder- und Jugendarbeit in Entscheidungsprozesse auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene einzubinden. 

Es gab kaum Formen der Anhörung oder Beteiligung Jugendlicher zu der Frage, wie sie mithelfen könnten, die Virenverbreitung auf Spiel- und Sportplätzen, in Bildungs- Betreuungs- und anderen Jugendeinrichtungen zu bekämpfen. Ob das nach dem Lockdown ohne weiteres wieder „hochgefahren“ werden kann, ist fraglich. Wie die allzu selektive Öffnung von Schulen, Kitas und Einrichtungen der offenen Jugendarbeit aufzeigt, laufen viele Maßnahmen auch weiterhin auf Aussperrung und Entrechtung vieler Millionen Kinder hinaus.

Jeder einzelne Fußballproficlub-Manager hatte und hat mehr mediale Präsenz als alle Kinder Deutschlands zusammen. Biergärten, Baumärkte und Bundesliga-Mannschaften sowie Kirchen waren schneller wiedereröffnet als Tausende von Kinderspielplätzen. Millionen von Kindern und Jugendlichen wurden völlig ungefragt vergessen beziehungsweise, was noch schlimmer ist, nur als „Viren-Schleudern“ angesehen, die man am besten einfach nur wegschließt, ohne sie auch nur ansatzweise in die Entscheidungsprozesse einzuweihen, geschweige denn einzubinden.

Voraussetzungen für außerschulische Angebote

Wer Kinder und Jugendliche bei der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützen will, muss sich zunächst dieser weitreichenden Verletzungen von Grund- und Kinderrechten und der Beschneidung von Beteiligungsprozessen durch die Corona-Maßnahmen bewusst sein.

Bevor also mögliche Wege gegangen werden können, um (wieder) Kontakt zu halten und Angebote zu schaffen, müssen die zugrundeliegenden Bedingungen untersucht werden. Zentral ist dabei die Frage, für welche Kinder und Jugendlichen in welchen Verhältnissen die Angebote gedacht sind. Denn es macht einen Unterschied, ob die Kinder wohlhabender Eltern mit großen Häusern, Gärten, vielen technischen Mitteln und anderen Kompensationsleistungen gesegnet sind oder in einer viel zu kleinen Großstadtwohnung mit zu wenig Bewegungsraum, reduzierten Versorgungsmöglichkeiten, enormen existenziellen Sorgen und mangelhafter Hardwareausstattung ausharren müssen. Kurz gesagt: Durch die Covid-19-Pandemie und die Gegenmaßnahmen konnten privilegierte Kinder ihren Vorsprung an Partizipation und Bildungschancen noch ausbauen. Die Benachteiligten dagegen bleiben durch Bildungsexklusion und „Homeschooling“ überwiegend weiterhin unterprivilegiert und werden noch stärker benachteiligt. Je nach Zielgruppe müssen diese sozioökonomischen Voraussetzungen für die Unterstützung durch außerschulische Bildung reflektiert werden.
 
All diese Problemdimensionen sollten von Akteur*innen der außerschulischen Bildung, wie den Volkshochschulen, in ihrem Bemühen um Ansprache und Kontakt mit den jungen Menschen mit berücksichtigt werden. Es geht somit auch und vor allem um Verständigungs- und Verständniswege, die die Bildungsträger gehen müssen, um Kinder und Jugendliche in der Wahrnehmung ihrer Rechte (wieder) zu unterstützen. Wie diese Wege im Einzelnen aussehen, müssen die Praktiker*innen jeweils mit den Kindern, Jugendlichen und Jugendverbandsvertreter*innen ausloten, da es zur jeweiligen konkreten Praxis unter spezifischen Kontexten kaum Patentrezepte geben kann.

Digitale Bildung – aber wie?

Lernen mit digitalen Medien hat in Zeiten der Covid-19-Pandemie schlagartig an Bedeutung gewonnen. Voraussetzung für kindgerechte Entfaltungsmöglichkeiten in digitalen Räumen wäre allerdings unter anderem ein Rechtsanspruch auf digitale Ausstattung der Betroffenen. Ein Recht auf digitale Bildung und digitale Kompetenzen ist auch auf Basis der UN-Kinderrechtskonvention zwingend notwendig. Am besten sollte gemeinsam mit Kindern, Jugendlichen, Kinderrechtsorganisationen und Akteur*innen der Kinder- und Jugendarbeit überlegt werden, welche Kontexte am hilfreichsten wie gestaltet werden sollten.
 
Wie der Frankfurter Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften Tim Engartner hervorgehoben hat, gibt es gute Gründe, die regierungsamtliche und öffentlichkeitswirksame „Digitalisierungseuphorie“ angesichts der realen personellen und sachlichen Ausstattung der (schulischen) Bildungsinstitutionen gehörig infrage zu stellen. Er weist darauf hin, dass Hunderttausende Kinder mit der Schließung ihrer Einrichtungen seit März 2020 auch kein kostenloses, über das Bildungs- und Teilhabegesetz finanziertes, Mittagessen bekommen haben. Deshalb sollte laut Engartner die Tatsache, dass „vielen Schülerinnen und Schülern durch das derzeitige Homeschooling der Zugang zu einer warmen Mahlzeit, zu einem gewaltfreien Lernumfeld sowie zu vertrauten Kontaktpersonen genommen wurde, Anlass sein, unser Schulsystem bildungs-, sozial- und steuerpolitisch zu reformieren. Genauer gesagt: Wenn wir Investitionen in die digitale Infrastruktur an Schulen fordern, dürfen Anliegen wie die Integration von Geflüchteten, die Verbesserung der Lehrer-Schüler-Relation und der Abbau der sozialen Polarisierung nicht in Vergessenheit geraten“ (Engartner, T. (2020)).

Mit den gleichen Herausforderungen müssen sich auch alle außerschulischen Bildungsverantwortlichen auseinandersetzen, um (nicht nur) in digitalen Kontexten Räume für kindgerechte Entfaltungsmöglichkeiten zu etablieren. Digitale Angebote müssen auch in der Jugendarbeit oder der Beratung ausgebaut werden, dürfen aber den direkten persönlichen Kontakt nicht ersetzen. Datenschutz und Datensicherheit müssen dabei genauso gewährleistet sein wie eine offene, aber auch kritische Begleitung der neuen digitalen Angebote. Berechtigterweise mahnte auch der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) am 6. Mai 2020 (vgl. DBJR 1), dass Kinder und Jugendliche endlich bei diesen Überlegungen an den sie betreffenden Entscheidungen partizipieren sollten. 

Bedeutung der sozialen Infrastruktur

Laut Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, wurden bis zur Covid-19-Pandemie etwa 60 Prozent aller Kinderschutz-Meldungen durch Kitas, Schulen, Kinderärzte und andere Kindereinrichtungen vorgenommen. Diese waren seit März 2020 für die meisten Kinder (fast) gar nicht mehr zu erreichen (vgl. Frankfurter Rundschau v. 22.4.2020, S. 3). Auch deshalb sind im Moment die Sicherung und der bedarfsgerechte Ausbau der Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe äußerst wichtig. Kinder, Jugendliche und Familien sind gerade in diesen Tagen auf eine gut funktionierende und flexible Unterstützungsstruktur vor Ort angewiesen. Im Gegensatz dazu stehen Einschränkungen oder sogar die Schließung von Einrichtungen und Angeboten in allen Bereichen der Kinder- und Jugendarbeit.
 
Es ist notwendig, gerade die präventiven Angebote und die offene Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe sowie die außerschulischen Bildungsorte zu fördern. Genauso ist die Achtung der Kinderrechte gemäß UN-Kinderrechtskonvention sowie der gesetzliche Auftrag unter anderem des Kinder- und Jugendhilfegesetzes auch unter Pandemiebedingungen sicherzustellen. An Entscheidungen sind stets die betroffenen Kinder, Jugendlichen, Jugendverbände und Kinderrechtsorganisationen zu beteiligen (vgl. z. B. DKHW vom 6.4.2020; DBJR 2 v. 3.4.2020), wie es die UN-Kinderrechtskonvention im Bundesgesetzblatt und das Kinder- und Jugendhilfegesetz im Sozialgesetzbuch VIII vorsehen.

Abfederung von Folgen der Isolation

Können Akteure der außerschulischen Bildung dazu beitragen, dass die Folgen der Corona-bedingten Isolation vieler Kinder abgefedert werden können? Das hängt wesentlich davon ab, wie (gut) die außerschulischen Institutionen und Personen auch schon vor Corona mit Kindern und Jugendlichen zusammengearbeitet haben. Ist dort ein Band entstanden, so lässt es sich auch digital aufnehmen. Um Kontakte (wieder-)herzustellen, sind Kinder und Jugendliche in die Debatten zum Ausstieg aus dem sog. Lockdown (also zur Beendigung der Schließungen) und zur Rückkehr in die Bildungseinrichtungen zu integrieren und an Entscheidungen darüber zu beteiligen. Daher sind alle mit Kindern Beschäftigten immer aufgerufen, innerhalb ihrer (Kinder- und Jugend-)Gruppen zur Empathiebildung und zur Anerkennung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten aller Kinder beizutragen.

Blinde Flecken in der Bildungspolitik

Zur grundsätzlichen Kontextanalyse dieser Herausforderung gehört sicherlich zugleich eine deutliche Kritik der Exit-Debatten zu Bildung und ihrer Reduktion auf Schule, bei denen nicht nur aus Sicht der Schülerinnen und Schüler der außerschulische Bereich (fast) völlig ausgeblendet wurde bzw. wird. Nach ersten Ergebnissen einer Befragung von über 5000 Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 15 und 30 Jahren ist eine zentrale Wahrnehmung, dass sie nicht den Eindruck haben, „dass ihre Interessen in der derzeitigen Krise zählen. Sie nehmen nicht wahr, dass ihre Sorgen gehört werden und sie in die Gestaltungsprozesse eingebunden werden“ (Andresen u.a. 2020, S. 16). Des Weiteren haben sie das Gefühl, nur funktionieren zu müssen und dabei auch nur auf eine Rolle (Schüler*in im Homeschooling) reduziert zu werden, während fast alle anderen außerschulischen Lebensbereiche jugendlicher Erfahrung völlig ausgeblendet wurden.
 
„Zudem stehen vor allem nur die Jahrgänge im Fokus, die kurz vor einem Schulabschluss stehen, insbesondere sich in den Abiturprüfungen befinden. (…) Wer immer wieder aus dem Blick gerät, sind junge Menschen, die an Förderschulen sind und/ oder eine Beeinträchtigung haben. Für diese jungen Menschen kann das Homeschooling derzeit in dieser Form gar nicht stattfinden, da es beim normalen Schulbesuch schon schwierig ist und sie der Unterstützung bedürfen. Dies wird in der öffentlichen Diskussion nicht berücksichtigt, wie diese jungen Menschen wieder in Schule und Ausbildung zurückgeführt werden können und wollen“ (ebd.). 
 
Viele Lehrer*innen verweisen darauf, dass sie seit den Schulschließungen mit einer beträchtlichen Zahl von Schulkindern (fast) überhaupt keinen Kontakt mehr hatten oder haben (vgl. Frankfurter Rundschau v. 6.5.2020). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales geht derweil offenbar davon aus, durch den ALG-II-Regelsatz sei eine ausreichende Finanzierung von Hardware-Ausrüstung für jedes Schulkind gewährleistet bzw. ansparbar (Diekmann, F. und Fokken, S. (2020), Lehmann, A. (2020), Bonath, S. (2020)). Diese Aussage ist höchst umstritten und die Debatte zeigt einmal mehr, wie ungleiche Bildungschancen aufgrund der sozialen Herkunft reproduziert bzw. verschärft zu werden drohen.
 
Bildungsträger und andere gesellschaftliche Akteure sollten sich für einen „Kindergipfel“ einsetzen, auf dem gemeinsam mit Kindern, Jugendlichen, Jugendverbänden und Kinderrechtsorganisationen überlegt wird, wie der bislang kinderrechteverletzende Prozess wieder kinderrechtsgemäß gestaltet werden könnte. Bislang lassen sich jedenfalls seitens der Regierung leider keinerlei (ausreichend) wirksame Gegenmaßnahmen zu den Kinderrechtsverletzungen hinsichtlich Partizipation, Förderung (z. B. Bildung, Jugendhilfe-Infrastruktur) oder Schutz (z. B. vor Armut) erkennen, sodass ein gesellschaftspolitischer Rückschritt diagnostiziert werden muss.

Erläuterungen und Hinweise

Bildnachweise

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  • Michael Klundt