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Deutscher Volkshochschul-Verband

"Mehr von Erfolgen und Misserfolgen erzählen"

Im Rahmen des Jahresschwerpunktes "Zusammen in Vielfalt" haben wir Volkshochschul-Mitarbeiter*innen interviewt und sie zu den Themen Diversität und gesellschaftlicher Zusammenhalt befragt.
Der nächste Teil der Serie mit Alexander Wicker, Bildungspartner Main-Kinzig, Stellvertretender Leiter der Volkshochschule

Interviewreihe "Zusammen in Vielfalt"

Mit dem Jahresthema „Zusammen in Vielfalt“ machen Volkshochschulen im Jahr 2022 die Vielfalt ihrer Einrichtungen sichtbar und entwickeln sie weiter. Denn unsere Gesellschaft ist bunt: Menschen mit unterschiedlichen Biografien, Fähigkeiten und Lebensrealitäten prägen das Zusammenleben in unserer Gesellschaft und unsere Arbeit an den Volkshochschulen. Diese Vielfalt bietet Chancen und Potenziale. Studien zeigen: Dort, wo Vielfalt gefördert und gelebt wird, ist auch der Zusammenhalt stark. 

Über das ganze Jahr stellen wir Volkshochschulen und ihre Mitarbeiter*innen vor, die sich am Jahresschwerpunkt beteiligen. Das nächste Interview führt uns nach Hessen zu Alexander Wicker von den Bildungspartnern Main Kinzig. (Öffnet in einem neuen Tab) Er ist stellvertretender Leiter der vhs und Leiter der Fachbereiche Gesellschaft und Kultur.

Alexander Wicker, Bildungspartner Main Kinzig, stellvertretender Leiter der vhs und Leiter der Fachbereiche Gesellschaft und Kultur

Was verbindest Du mit dem Schwerpunktthema „Zusammen in Vielfalt“?

Das Schwerpunktthema ist für mich die Essenz dessen, welche Rolle die Volkshochschulen in unserer Gesellschaft spielen und spielen sollten. Vielfaltakzeptanz ist für mich eines von zwei Megathemen der politischen Bildung heute und auch noch in zehn Jahren. (Das andere ist politische Medienkompetenz.) Vielfalt ist gesellschaftliche Realität, sie ist wünschenswert und bereichernd. Wir als Volkshochschulen leben diese Vielfalt, von den gut 900 Volkshochschulen in Deutschland ist keine wie die andere. Das ist auch unsere Stärke. Wer vor Vielfalt Angst hat – und ich meine nicht vorgeschobene, zu Spaltungszwecken ostentativ betonte „Angst“ –, der oder die ist erreichbar für Bildung, für Begegnungen und Lernen über „das Andere“. Das Motto der Volkshochschulen ist „Bildung für alle“ – wir fragen uns in diesem Zusammenhang immer: „Bildung für alle, aber auch für jede*n?“ Und hier kommt das „zusammen“ ins Spiel. Wir alle zusammen, auf der Seite der Volkshochschulen wie auch auf der Seite unserer Teilnehmer*innen und anderen Stakeholdern, müssen Akzeptanz leben, und das heißt auch, die Volkshochschulen eben für jede*n zu öffnen, jeder und jedem Teilhabe zu ermöglichen, auch wenn es mitunter anstrengend erscheint. Diesen, unseren Auftrag müssen wir ernst nehmen, sonst machen wir uns selbst überflüssig.

Inwieweit sind Vielfalt und Inklusion zentrale Bildungsaufgaben für Deine Volkshochschule?

Volkshochschulen haben einen entscheidenden Vorteil auf diesem Gebiet: Wir kennen uns aus mit heterogenen Lerngruppen. Die Frage ist nur: Wie heterogen sind sie? Da ist immer noch Luft nach oben. Das bedeutet nicht, dass es nicht Schwierigkeiten und Hindernisse zu überwinden gilt. Das sind unsere Aufgaben als öffentliche Bildungseinrichtung, und deshalb sind sie zentral. Weil sie an unseren Kernprozessen ansetzen und alle in der Volkshochschule betreffen: Hausmeisterinnen, Leitungen, Kursleitungen, Planende, Verwaltungsmitarbeiter, Qualitätsbeauftragte, wen auch immer. Inklusion ist da ein guter Ansatz. Wenn wir Bildungsangebote immer spezifischer auf immer enger definierte Zielgruppen zuschneiden, besondern wir diese. Wir möchten bei „Zusammen in Vielfalt“ aber genau das „Zusammen“ ernst nehmen. Zielgruppenspezifik hat mesopädagogisch ihren Platz, aber das breite Bildungsangebot der Volkshochschulen erhalten wir nur, wenn wir alle zu inkludieren versuchen. Dabei gilt: Nicht darauf warten, den ganz großen Wurf zu landen, sondern einfach anfangen. Mit einem Kurs , mit einer kleinen Änderung im Anmeldeprozess, mit einem Schritt hin auf Interessenverbände und Selbstorganisationen beispielsweise von marginalisierten Gruppen. Da können wir so viel lernen. Und dann darauf aufbauen. Man muss das als Prozess begreifen und akzeptieren, dass der niemals zu Ende ist. (Und ich sage das alles übrigens ausdrücklich aus einer Position mitten in diesem Prozess heraus. Auch hier läuft nicht alles gut, wir haben uns auch erst auf den Weg gemacht.)

Mit welchem Projekt/welchen Bildungsangeboten reagiert ihr gezielt auf diesen Bedarf?

Wir haben insbesondere die – in sich wiederum ebenfalls sehr vielfältige – Gruppe der Menschen mit Beeinträchtigungen im Auge. Seit vielen Jahren pflegen wir eine intensive Kooperation mit einem großen Sozialunternehmen hier vor Ort. Gemeinsam haben wir zunächst „Bildung inklusive“ entwickelt. Nach einer Weile haben wir festgestellt, dass diese Angebote im Gegenteil sehr exklusiv waren und ausschließlich Menschen mit Behinderungen daran teilnahmen. Deshalb haben wir im nächsten Schritt versucht, ehrenamtliche „Bildungsbegleiter*innen“ zu gewinnen. Die Idee war es, das reguläre vhs-Programm zu öffnen. Entsprechenden Befürchtungen der Zielgruppe, aber auch der Kursteilnehmenden, die sich nicht als „beeinträchtigt“ bezeichnen würden, wollten wir entgegen treten, indem jedem Menschen mit Beeinträchtigung auf Wunsch eine solche Bildungsbegleitung zur Seite gestellt würde, um das Lerntempo der Gruppe nicht in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen. Eine weitere Idee, die wir gemeinsam umgesetzt haben, war ein „Seitenwechsel“-Programm („mehrseitig“), bei dem Menschen aus Bürojobs einmal betreut in die Arbeitswelt von Menschen mit Beeinträchtigungen hineinschauen konnten.

Seit 2018 haben wir nun zusammen mit anderen Volkshochschulen ein Verbundprojekt ein vom Land Hessen um Rahmen des Weiterbildungspakts gefördertes Projekt zu inklusiver Lernkultur. In diesem Rahmen haben wir drei Schwerpunkte: Erstens Inklusive historisch-politische Bildung zusammen mit dem Landesverband Hessen im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. (Öffnet in einem neuen Tab). Eine im Bildungshaus Main-Kinzig befindliche „Lernstation Kriegsgräberstätte“, auf der acht Kriegsschicksale von Menschen aus dem Main-Kinzig-Kreis in Wort und Bild dargestellt sind, wurde um zwei Schicksale aus der sog. „Euthanasie“ erweitert und barrierearm zugänglich gemacht. Alle Texte stehen nun zusätzlich in zwei Niveaus Leichter Sprache zur Verfügung, die Bilder wurden beschrieben und die Beschreibungen ebenfalls übersetzt. Alle diese Texte sind für Blinde und Sehbeeinträchtigte auch eingesprochen worden und per taktilen QR-Codes mit Smartphones abrufbar. In einem zweiten Schritt entwerfen wir nun inklusive Angebote der historisch-politischen Bildung.

Zweitens haben wir gemeinsam mit der Universität Hamburg eine neunmodulige Weiterbildung zur inklusiven Lernkultur entwickelt, die für das Thema sensibilisieren soll. Die Weiterbildung ist derzeit in der Erprobung.

Und drittens haben wir gemeinsam mit dem Behinderten-Werk Main-Kinzig e. V. (Öffnet in einem neuen Tab)  unter inklusivelernkultur.de (Öffnet in einem neuen Tab) eine Wissens- und Communityplattform aufgesetzt, die alle Themen rund um inklusive Lernkultur beleuchten soll. Die Plattform umfasst einen Blog, einen Veranstaltungskalender, Links zu interessanten Artikeln und Videos und wird mittlerweile schon durchschnittlich 15.000-mal im Monat geklickt. Wir können mit unseren begrenzten Mitteln aber nicht genug Content produzieren. Deshalb sind wir aufs Mitmachen angewiesen. Wer also etwas beisteuern möchte, z. B. auch auf eigene Projekte, Publikationen oder Veranstaltungen zum Thema aufmerksam machen möchte, oder wer einen Tipp hat, was wir uns mal anschauen sollten, der kann sich jederzeit an uns wenden. Kurze Mail an alexander.wickerbildungspartner-mkde genügt. Wir würden uns freuen!

Welche Herausforderungen stellen sich bei der Durchführung von Bildungsangeboten/Projekten im Themenbereich Vielfalt und Zusammenhalt?

Es klingt ein wenig wie ein Kalenderspruch, aber es steckt viel Wahrheit darin: Die größten Hindernisse bauen wir uns selbst auf, indem wir glauben, wenn wir nicht für jedes Problem schon eine Lösung haben, bräuchten wir erst gar nicht anzufangen. Oder indem wir glauben, es ist doch schon alles gut so, wie es ist. Betroffene können uns da sehr überraschende und für uns gelegentlich recht unangenehme Erfahrungen berichten. Wir als Volkshochschulen müssen Vielfalt leben. Das heißt, wir schreiben das nicht nur in unsere Leitbilder, sondern hinterfragen uns in unserem organisationalen Auftreten, wo wir Vielfalt begünstigen und wo wir sie behindern.

Mir ist es noch einmal wichtig zu betonen, dass viele Volkshochschulen schon sehr weit sind auf diesem Weg, viele weiter auch als wir hier. Wer das also liest und sagt, machen wir doch schon: sehr gut, weiter so. Wir müssen uns noch besser vernetzen und uns von unseren Erfolgen und Misserfolgen erzählen. Dann können wir daraus lernen. Dabei kann und soll das Schwerpunktthema auch helfen, solche Foren zu schaffen, in dem sich die Volkshochschulen im geschützten Raum über gute und vor allem auch schlechte Erfahrungen austauschen können. Dann kann Zusammenhalt entstehen, den wir in unserer Gesellschaft dringender brauchen denn je. Leider sind viele Akteur*innen daran nicht interessiert und arbeiten mitunter aktiv dagegen an. Da heißt es dann auch, nicht mit jedem und jeder den Schulterschluss zu suchen. Falsch verstandene „Neutralität“ spielt immer denen in die Hände, die die Spaltung unserer Gesellschaft betreiben. Wir als Volkshochschulen müssen und können uns überzeugend für Demokratie und Zusammenhalt positionieren, ohne uns politisch vereinnahmen zu lassen.

Erläuterungen und Hinweise

Bildnachweise

  • Bildungspartner Main-Kinzig GmbH