von Axel Krüger
Ein unangenehm kalter Wind pfeift um die Ecken der herrschaftlichen Gründerzeithäuser von Görlitz. Dr. Martin Winands zieht seinen dicken Schal noch ein bisschen dichter an den Hals. Eine ordentliche Erkältung hat er mitgebracht aus Bonn, von wo aus er die weite Reise in die östlichste Stadt Deutschlands angetreten hat. Unterstützt von seiner Kollegin Magda Langholz leitet der Referent für politische Jugendbildung im Deutschen Volkshochschul-Verband (DVV) ein Projekt, das junge Menschen in ihren politischen Aktivitäten fördern will. Und er wollte es sich keineswegs nehmen lassen, bei der Premiere dabei zu sein. Erkältung hin oder her.
Gesprächsausschnitt aus GörlitzIch finde, man sollte schon mit 16 wählen dürfen. Stell Dir das mal vor und dann guck Dir an, wie dämlich viele mit 16 noch sind. Hört das mit der Dämlichkeit auf, wenn man älter wird? Also bei mir hoffe ich das schon, dass ich reifer und verantwortungsvoller geworden bin mit den Jahren und den Anforderungen meiner Position. Aber ist es nicht so, dass egal ob jünger oder älter, immer ein gewisser Teil der Leute um uns herum weniger interessiert ist und ein anderer, meistens wohl der kleinere, dafür umso mehr? Und über Volksentscheide? Kann man die Leute wieder mehr für Politik interessieren, wenn sie viel mehr selbst darüber abstimmen könnten, was passieren soll? Na ich weiß nicht. Ganz viele politische Fragen sind doch zu komplex, als dass man sie mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten könnte. Volksentscheide aber machen das, sie vereinfachen Probleme auf ein Dafür oder Dagegen. Genau, in Großbritannien sieht man jetzt, was die davon haben. Brexit ohne Exit-Strategie.
Der Anlass für das Projekt „Euro-Tram” ist ein ernster. Politikmüdigkeit, Europaskepsis, Desinteresse an gesellschaftlichen Prozessen nehmen, so der Tenor aktueller Jugendstudien, in erschreckendem Maße zu. Der DVV setzt dagegen auf politische Jugendbildung. Stichworte wie Partizipation, Verantwortung, Medienkompetenz, Zivilcourage, Respekt, Verstehen und Anerkennung sind die Leitthemen. Wie aber, so hatten Winands und sein Team sich gefragt, kommt man ran an junge Menschen. Politische Talkrunden seien nicht „jugendaffin”, darüber war man sich schnell klar. Und irgendwann lag die Idee mit der Tram auf dem Tisch.
Gesprächsausschnitt aus GörlitzWelche Zeitungen nutzt ihr denn so zu Hause? Habt ihr überhaupt noch Vertrauen zu den Medien? Hat jemand den Artikel auf SPIEGEL ONLINE gelesen, wo drinsteht, dass Görlitz eine bunt angemalte Totenkiste ist? Ich fand den gar nicht so schlimm, den Artikel, das ist halt auch eine Seite von Görlitz, dass viele weggegangen sind. Ja aber so ein gemeiner Beitrag, da will doch anschließend keiner mehr hierherziehen! Ach Quatsch, das vergessen die Leute ganz schnell wieder. Diskutiert ihr eigentlich bei Euch in der Familie über Politik? Wir nicht mehr inzwischen, es hat immer nur Streit gegeben. Eigentlich müsste man sich mal so eine AfD-Broschüre nehmen und wirklich mal von vorne bis hinten durchlesen. Ich fänd's gut, wenn wir das im Unterricht machen würden. Kannste vergessen, kein Lehrer traut sich an das Thema ran. Die meisten hamm ja selbst keine klare Meinung dazu, die hamm nur Angst, dass sie dann ihren normalen Stoff nicht mehr durchkriegen. Aber das wär doch wichtig, dass man in der Schule auch lernt, wie politischer Streit vernünftig funktioniert.
„Die Straßenbahn wird als alltägliches Verkehrsmittel von allen sozialen Gruppen genutzt. Sie bietet daher eine niedrigschwellige und zugleich ungewöhnliche Gesprächsatmosphäre”, so die theoretischen Überlegungen der Bonner Projektrunde. Ganz praktisch steht jetzt auf einem Wartegleis in der hervorragend sanierten Görlitzer Innenstadt die Partybahn der städtischen Verkehrsgesellschaft und wartet auf eben jene Jugendlichen, die es laut einem SPIEGEL ONLINE-Artikel in Görlitz, der „bunt angemalten Totenkiste”, kaum mehr gäbe.
Gesprächsausschnitt aus GörlitzWas trägt zu einem positiven Lebensgefühl bei für Euch? Arbeit. Freunde. Eltern, denen es gut geht. Berufliche Perspektiven. Ausgehen. Die Grenze. Was, die Grenze? Ja nee, nicht die Grenze, die Leute, die auf der anderen Seite von der Grenze leben, die sind fröhlicher als viele hier. Wer von Euch ist oft drüben? Ich, zum Basketball, Zgorzelec (die polnische Zwillingsstadt von Görlitz, A.d.R.) hat eine Spitzenmannschaft. Wir gehen mit Freunden im Sommer abends mal rüber auf ein Bier. Was bringen die Polen uns? Ohne die Polen könnte hier manches Geschäft dichtmachen, die kaufen viel ein. Zweieinhalbtausend Polen wohnen hier bei uns. Das ist gut für die Vermieter. Bei meinem Vater im Klinikum kämen sie ohne polnische Ärzte gar nicht mehr aus. Kann jemand von Euch polnisch? Ich. Ich auch. Ich ein bisschen.
Franziska Arauner schüttelt den Kopf. Unsinn sei das. Natürlich gibt es junge Leute. Und politisch interessiert seien viele auch. Bei Frau Arauner liefen die Zügel der örtlichen Vorbereitung auf das Experiment zusammen. Vier Themenbereiche hat sie gemeinsam mit einem guten Dutzend Jugendlicher in zwei Vorbereitungstreffen identifiziert. Und vier „Experten” gewinnen können, sich für Diskussionen hierüber zur Verfügung zu stellen. Yvonne Reich, Opernsängerin und Stadträtin. Frank Seibel, Journalist und Vorsitzender des grenzüberschreitend tätigen Vereins „Meeting Point Music Messiaen”. Ulf Großmann, ehemaliger Bürgermeister und Vorstand mehrerer kultureller Institutionen. Professor Willi Xylander, Direktor des Görlitzer Senckenberg Museums für Naturkunde.
Gesprächsausschnitt aus GörlitzWas sagt ihr zu den Ereignissen in Bautzen? Dass das geplante Asylheim angezündet worden ist, find ich voll scheiße. Das weiß man ja noch gar nicht, wer das war. Aber die, die rumgebrüllt und das gefeiert haben, die müssen jetzt wenigstens vor Gericht. Und die Geschehnisse auf der „Platte”, dem Platz in Bautzen, wo rechte Schläger hinter minderjährigen Flüchtlingen her sind? Die Flüchtlinge hamm provoziert und mit Flaschen geschmissen. Ach so, biste sicher, warste dabei? Meint ihr, da gibt es Parallelen zwischen Görlitz und Bautzen, die beiden Städte liegen ja nicht so weit auseinander? Nö, hier isses ruhig, die Linken und die Rechten machen jeder so ihr eigenes Ding. Und die Flüchtlinge sind in Familien oder in ganz kleinen Gruppen verstreut über die ganze Stadt untergebracht. Das find ich besser, dann lernt man die eher mal kennen. Wir haben mit denen bei uns in der Straße im Sommer paar Mal gegrillt, das war lässig.
Nun stehen sie alle zusammen vor der Tram und frieren. „Hoffentlich ist die geheizt”, sagt der schniefende Professor und setzt zu einem sportlichen Sprint an, quer über die Straße zur gegenüberliegenden Apotheke. Als er wenige Minuten später wieder zurück ist, hat die gemischte Truppe die Bahn schon gestürmt. Meistens transportiert das mit Tresen, einer Bar und kleinen Bistrotischen ausgestattete Fahrzeug Feiergesellschaften. „Geburtstage, Firmenfeiern, wir hatten sogar schon eine Hochzeit”, sagt der freundliche Fahrer und klingelt zur Abfahrt.
Gesprächsausschnitt aus GörlitzWie kann man Grenzen im Kopf überwinden? Was meinst Du für Grenzen, welche? Na zwischen verschiedenen Gruppen. Vielleicht miteinander sprechen? Ja aber gerade das ist ja so schwer. Linke und Rechte setzen sich doch nie an einen Tisch. Das müssen wir im Stadtrat auch, uns mit den anderen an einen Tisch setzen, auch wenn die und ihre Ansichten uns nicht immer gefallen. Ja aber Ausländer und Nationalisten, die kriegt man doch nie zusammen! Erstmal sind wir Menschen biologisch doch alle ziemlich gleich, das könnte ein Ansatz sein, um das Gemeinsame rauszuarbeiten.
„Nationalismus in Europa” steht auf einem der handgeschriebenen Plakate. „Umwelt” auf einem zweiten. „Regionale Zukunft” und „Wahlen” sind die weiteren Themen, auf die sich die Experten jetzt verteilen. Jeweils eine Viertelstunde soll miteinander gesprochen werden, dann steht ein fliegender Wechsel an. „So hoffen wir auf eine größtmögliche Zahl von Begegnungen”, begründet Magda Langholz die an ein Speeddating erinnernde Versuchsanordnung. Und tatsächlich. Es klappt.
Gesprächsausschnitt aus GörlitzWas soll aus Kindern werden, die ihre Eltern nur als Hartz-IV-Empfänger kennen? Ich hab so welche in der Klasse. Da müssen Angebote her, die denen raushelfen. Warum hängt der Bildungsgrad immer noch mit der sozialen Herkunft zusammen? Das hat's in der DDR nicht gegeben. Hör mir doch mit der DDR-Romantik auf, willste das System wiederhaben? Nö, aber was gut war, da kann man ja mal drüber sprechen?! Ja, das stimmt. Die neue Gründerszene, die müsste man uns Schülern und Studenten mal als Gesprächspartner vermitteln. So wie die drei, die sich jetzt mit ihren Unternehmen in der Jakobpassage selbstständig gemacht haben. Genau, hat jemand Kontakt zu denen? Ja, ich kenne einen von denen, ich frag die mal, ob die vielleicht mal in die Schule kommen zu einem Vortrag.
Von Verlegenheit keine Spur. Berührungsängste Fehlanzeige. Satzfetzen fliegen durch die Luft wie draußen die Fassaden vorbei. Hartz IV, der Sinn von Volksentscheiden, die neue Görlitzer Gründerszene, Wahlrecht ab 16, Braunkohleabbau in der Lausitz, AfD, Urban Gardening. Quer durch den Themengarten. Die Experten kommen ins Schwitzen. Das liegt nicht nur an der tatsächlich gut geheizten Straßenbahn. „Die jungen Leute haben sich gut vorbereitet”, stellt Frank Seibel fest. „Und ich merke gerade, dass ich wirklich kein Experte für knifflige Fragen zum Klimawandel bin.”
Gesprächsausschnitt aus GörlitzHätte jemand Lust, im kommenden Jahr bei einem Urban-Gardening-Projekt mitzumachen? Was ist das? Was muss man da machen? Hat das was mit den Samenbomben zu tun? Samenbomben? Na ja, wo Leute so Kräuter- und Blumensamen an öffentlichen Plätzen verstreuen. Wie in Görlitz, am Kreisverkehr? Nee, das war Cannabis, das hat die Polizei ausgegraben, als sie es gemerkt haben. Ja und dann monatelang untersucht, ob auch THC drin war. Würde denn jetzt jemand mitmachen wollen bei so einem Projekt? Stadtgärtnern, Bienenzucht auf alten Fabrikdächern, Verbreiterung der biologischen Vielfalt? Ja, ich. Ich auch, in jedem Fall.
Trotzdem schlagen sie sich gut, die vier Ausgesuchten. Weichen nicht aus. Die möglicherweise erwartbaren Politphrasen fallen nicht bei der Fahrt über das Görlitzer Gleisbett. Kaum einer der Mitreisenden hat an diesem Abend Augen für die architektonische Schönheit der von Kriegszerstörungen nahezu komplett verschonten Stadt, so intensiv sind die Gespräche. Ob die Menschen draußen ahnen, welch bemerkenswert engagierte und informierte Gruppe da gerade an ihnen vorbeigleitet? „Ziel ist, dass Jugendliche sich nicht als Gegenstand, sondern als Teil politischer Prozesse begreifen, die sie mitgestalten können”, hatte Dr. Martin Winands für die ungewöhnliche Veranstaltungsform optimistisch formuliert. Ziel erreicht!