Eine Akademie für zwei eher kleine Städte und den umliegenden Landkreis? Das klingt vermessen, kommt aber gut an. So an diesem Abend Mitte Oktober, als die Historikerin Agnès Arp von der Universität Erfurt ihr Buch mit Lebensgeschichten von Menschen in Ostdeutschland vorstellt. So fast immer, wenn die „Akademie“ unter dem rosettenförmigen bunten Fenster in der Aula des alten Schulgebäudes in Altenburg tagt. Seit 2019 finden sich hier einmal im Monat Personen zusammen, die einem wissenschaftlichen Vortrag lauschen und dann mit dem Referenten, der Referentin in die Diskussion treten. Die Veranstaltung findet immer an einem Montagabend statt. Nicht gerade der attraktivste Zeitpunkt, um nach Feierabend noch eine vhs-Veranstaltung zu besuchen. Das Format ist jedoch mittlerweile beliebt genug, um die Antriebsschwäche zu Wochenbeginn wettzumachen. Was mit einem guten Dutzend Teilnehmenden begann, mobilisiert inzwischen auch schon einmal sechzig, berichtet Fachbereichsleiter Dr. Michael Hein.
Michael Hein ist promovierter Politologe. 2019 kam er direkt von der Universität an die vhs Altenburger Land, die für Altenburg und Schmölln zuständig ist. Keine der beiden Städte verfügt über eine Hochschule, die nächsten sind in Leipzig und Jena. Michael Hein fand, dass es den Versuch wert sei, interessierten Bürger*innen Vorträge von Forscher*innen zu historischen und politischen Themen anzubieten und so über aktuelle wissenschaftliche Debatten zu informieren. Das war der Beginn der „Akademie in der Aula“. Durch die Covid-Epidemie konnte die gerade angelaufene Veranstaltungsreihe zwischenzeitlich nur online angeboten werden, bevor sie ab 2022 richtig Fahrt aufnahm.
Kritische Heimatkunde
„Die Teilnehmenden sind nicht nur historisch interessiert, sondern wissen auch eine Unmenge über die Geschichte des Altenburger Landes“, sagt Michael Hein. Selbst zu einem Vortrag über Hexenverfolgungen im 16. und 17. Jahrhundert hatten einige der vierzig Zuhörer*innen aus lokalhistorischer Perspektive viel zu ergänzen. Nach Heins Erfahrung lohnt es sich, im Programm der Akademie auch einmal weit in die Geschichte zurückzugehen. 2025 stehen 500 Jahre Bauernkrieg an. Viele historisch Interessierte würden sich wohl noch an die Interpretation des Bauernkriegs als Klassenkampf im DDR-Schulunterricht erinnern, schätzt Hein. Die Veranstaltung im nächsten Jahr soll die heutige Sicht der Geschichtswissenschaft auf die dramatischen Ereignisse vor 500 Jahren zeigen.
Die DDR ist für viele im Altenburger Land noch immer Heimat. Hier wird das Versprechen von den „blühenden Landschaften“ nach der Wende von manchen bis heute als nicht erfüllt angesehen. Altenburg ist einer der fünf Landkreise im Deutschland mit den stärksten Bevölkerungsverlusten seit 1990. Die Mehrheit der Menschen in der Gegend hat Geschichte schmerzhaft erfahren: Das wird deutlich, als die Historikerin Agnès Arp in der Akademie über ostdeutsche Biographien spricht und Zuhörer*innen anschließend vom eigenen Werdegang nach der Wende erzählen.
Ein Rezept der Akademie besteht darin, an persönliche Erfahrungen der Teilnehmenden anzuknüpfen, dabei aber den kritischen Blick auf die Geschichte zu schärfen. So zum Beispiel in einem Vortrag des Dresdner Medizinhistorikers und Medizinethikers Florian Bruns über Stärken und Schwächen des Gesundheitssystems in der DDR – auch dies ein Thema, bei dem viele Zuhörer*innen mitreden konnten. Bruns sprach unter anderem über den Medikamentenmangel in der DDR. Er zeigte, wie Bürger*innen mithilfe von Eingaben an die zuständigen Stellen eben doch zu ihren Medikamenten kamen, vorausgesetzt, sie verfügten über das notwendige Durchsetzungsvermögen.
Über die Biographie hinaus
Die Akademie lädt immer wieder dazu ein, die eigene Lebensgeschichte im gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang zu reflektieren. Es geht aber nicht darum, in der Autobiographie zu verharren. Michael Hein nimmt auch kontroverse Gegenwartsthemen ins Programm auf, wie den Klimaschutz, die „Zeitenwende“ und den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, die Integration Zugewanderter oder den politischen Populismus. Die Altenburger*innen kommen und diskutieren mit. Fünf Jahre nach ihrer Gründung ist die Akademie in der Aula längst eine Institution.
#zukunftsort_vhs – Volkshochschule als Ort der Demokratie
vhs macht die Gesellschaft zukunftsfähig, überall in Deutschland. Wir zeigen Ihnen, was Volkshochschulen von Aurich bis Zittau tun, um demokratische Werte zu verteidigen und das Leben der Menschen vor Ort zu verbessern.