Der Erzgebirgskreis, die historische Montan- und UNESCO-Welterberegion an der Grenze zu Tschechien, ist der einwohnerstärkste Landkreis in Ostdeutschland. Viele Orte sind jedoch klein und überschaubar. Die Menschen sind hier oft seit Generationen verwurzelt. In den ländlichen Gemeinden kennen die Leute einander, begegnen sich häufig, müssen miteinander auskommen. Das macht es nicht immer einfach, politische Meinungen zu äußern und damit vielleicht auch anzuecken. „Bei uns gibt es keine großstädtische Anonymität“, sagt Jens Kaltofen, Leiter der vhs Erzgebirgskreis. „Darum scheuen sich viele, offen zu reden.“ Umso wichtiger sei es, dass die Volkshochschule Foren schaffe, auf denen Meinungsäußerung willkommen sei, jederzeit und gerade auch vor Wahlen.
Jahrelange Erfahrung mit „Kontrovers vor Ort“
Darin ist die Kreisvolkshochschule erfahren. Seit 2018 führt sie an ihren sechs Standorten zusammen mit der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung die Veranstaltungsreihe „Kontrovers vor Ort“ durch. Das von der Landeszentrale konzipierte Format kommt gut an: Im Erzgebirgskreis nehmen im Schnitt 15 Personen an den Veranstaltungen teil, nicht immer die gleichen, aber die Menschen kommen schon wieder.
Bei „Kontrovers vor Ort“ halten Fachleute Vorträge zu politisch brisanten Themen und lassen anschließend das Publikum zu Wort kommen. Manchmal wird dann auch emotional diskutiert. Der vhs-Leiter meint, dass sich in den Reaktionen aufgestaute Angst entlade: vor gesellschaftlichen Veränderungen und einer Zukunft, in der es nicht mehr möglich sein werde, wie gewohnt zu leben. Kaltofen versucht, bei diesen Diskussionen für Entspannung zu sorgen: „Wenn sich jemand äußern will und vor Aufregung einen hochroten Kopf bekommt, stelle ich ihm ein Glas Wasser hin, unabhängig davon, wer er ist und was er sagt.“ Extremistischen Äußerungen könne er in einer Veranstaltung in der Volkshochschule entgegentreten und sie entkräften, während sie in sozialen Netzwerken oft unwidersprochen bleiben würden, sagt der vhs-Leiter.
Stark nachgefragt, aber umstritten: die Wahlforen
In den Wochen vor der Landtagswahl, die am 1. September ansteht, geht es Kaltofen und seinem Team um eine andere Veranstaltungsreihe, die wiederum in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung durchgeführt wird: die Wahlforen. Partner sind unter anderem die sächsischen Volkshochschulen, auch im Erzgebirge. Politisch interessierten, eventuell noch unentschlossenen Wahlberechtigten bietet sich die Möglichkeit, mit jeweils sieben für den Landtag Kandidierenden über landespolitische Themen ins Gespräch zu kommen. Diese Wahlforen finden in 60 Orten in Sachsen statt, allein fünfmal im Erzgebirgskreis. Mit jeweils rund 100 Teilnehmenden ist das Format ausgesprochen erfolgreich.
Aber es gibt ein Problem mit den Wahlforen, und das betrifft die Auswahl der Parteien, die sich vorstellen dürfen. Die Landeszentrale für politische Bildung hat dafür Kriterien nach der sogenannten abgestuften Chancengleichheit aufgestellt: Die Parteien müssen in Fraktionsstärke im Bundestag oder im Sächsischen Landtag vertreten sein, oder sie müssen laut Umfragen der einschlägig bekannten Meinungsforschungsinstitute reale Chancen haben, nach der Wahl in den Landtag einzuziehen. Eingeladen wurden SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, CDU, AfD, Die Linke und BSW, nicht dabei waren unter anderem die Freien Wähler. Die protestierten unter Berufung auf ihre guten Kommunalwahlergebnisse – zum Beispiel bei der Kreistagswahl im Erzgebirgskreis 18,1 Prozent gegenüber 1,8 Prozent für die FDP. Die Freien Wähler erklärten die Wahlforen der Landeszentrale für politische Bildung für nicht repräsentativ und gründeten eigene Wahlforen.
vhs-Leiter Kaltofen kann das verstehen: Auch er fände es besser, wenn die Kommunalwahlergebnisse bei der Auswahl der Parteien für den Auftritt bei den Wahlforen berücksichtigt würden. Die Überparteilichkeit der Volkshochschule ermögliche es, dass Menschen ihre Meinungen und Ängste in Veranstaltungen äußern. Auf diese Weise könne die vhs Erzgebirgskreis der Beklommenheit in Sachen Politik, die gerade in kleineren Orten herrsche, entgegenwirken, sagt Kaltofen. Er wolle den guten Ruf der vhs als unparteiische Weiterbildungsorganisation nicht durch die Kriterien der Landeszentrale für politische Bildung beschädigt sehen.
#zukunftsort_vhs – Volkshochschule als Ort der Demokratie
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