
Beatrix Reuss von der vhs Region Lüneburg ärgert sich über Vorurteile – zum Beispiel über die weit verbreitete Meinung, dass viele Menschen, die staatliche Transferleistungen empfangen, nicht arbeiten wollten. „Das Problem sind oft nicht die Menschen, sondern die Zugänge zum Arbeitsmarkt.“ Die seien häufig verschlungen und voller Hürden.
Damit sich das ändert, engagieren sich die vhs Region Lüneburg und weitere Volkshochschulen in Deutschland im Bundesprogramm BIWAQ (Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier) (Öffnet in einem neuen Tab). Ihr Ziel ist es, Brücken in die Arbeitswelt zu schlagen, und zwar genau dort, wo Menschen leben, die sie brauchen.
Stadtviertel mit Potenzial
Das Projekt BIWAQ ist an ein Programm zur Stadtsanierung geknüpft und wird daher in Stadtteilen mit entsprechendem Bedarf durchgeführt. Manche dieser Viertel grenzen direkt an etablierte Wohngegenden. Manche liegen auch etwas abseits: So ist Hanaus Freigerichtsviertel durch eine große Verkehrsader von anderen Stadtteilen getrennt. Der Baubestand in den Sanierungsvierteln ist unterschiedlich, mit Hochhäusern, aber zum Beispiel auch mit ehemaligen Kasernengebäuden, die in Schwäbisch Gmünd und Hanau in Wohnhäuser umgewandelt wurden.
Gemeinsam sind den Stadtteilen meist der hohe Anteil der Einwohner*innen mit Migrationshintergrund und die hohe Arbeitslosenquote, die Probleme bringt. Aber es ist auch vieles in Bewegung. In einigen Vierteln wurden gezielt Bildungseinrichtungen angesiedelt. So ist die Gmünder Oststadt längst ein Bildungsstandort: Der ehemalige Campus der University of Maryland aus der Zeit, als hier amerikanische Truppen stationiert waren, beherbergt heute unter anderem einen Standort der vhs und ein Hochbegabtengymnasium des Landes Baden-Württemberg. In teils verbauten Gegenden entsteht mehr und mehr öffentlicher Raum, so etwa in Hanaus südlicher Innenstadt. Das Hanauer Fördergebiet Lamboy-Tümpelgarten hat von der Renaturierung im Rahmen des Landesgartenschau 2002 profitiert, und bei den Sanierungsmaßnahmen im Wilhelmshavener Stadtteil Tonndeich wird auch ein Kulturschatz wiederhergestellt: die Kopperhörner Mühle.
Oberbürgermeister Carsten Feist und vhs-Geschäftsführerin Ines Mierau, WilhelmshavenBiWAQ bietet für Tonndeich eine riesige Chance und tolle Perspektive, sich in den kommenden Jahren umfassend weiterzuentwickeln. Davon profitiert der Stadtteil nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial, kulturell und gesellschaftlich.
Ganzheitlicher Ansatz schafft Identifikation
Das Projekt BIWAQ widmet sich geringfügig Beschäftigten, die sich bessere Berufsaussichten erschließen wollen, Langzeitarbeitslosen, aber auch um Menschen, die erst seit kurzer Zeit erwerbslos sind. Besonderes Augenmerk richten die beteiligten vhs oft auf Frauen mit Zuwanderungsgeschichte, darunter auch Mütter jüngerer Kinder. An Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen, ermöglicht diesen Frauen oftmals eine Reflexion traditioneller Rollenbilder. Qualifizierung hilft den Frauen aber auch dabei, sich neue Perspektiven zu verschaffen und neue Wege zu entdecken „Denn dafür braucht es Teilhabe an der Arbeitswelt“, sagt Beatrix Reuss. „Arbeitslosigkeit motiviert nicht zum Rollenwechsel“. Frauen, die gemeinsam an Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen, bestärken sich nach ihrer Erfahrung gegenseitig, wenn es gilt, sich Freiräume fürs Lernen und für eine Erwerbsarbeit zu verschaffen.
An allen Standorten werden den Teilnehmer*innen berufsbezogene Sprachkenntnis vermittelt. Das ist wichtig, denn „sprachliche Überforderung kann schnell dazu führen, dass Menschen in der Qualifizierungsmaßnahme aufgeben“, sagt Dorothea Martini von der vhs Schwäbisch Gmünd. In Gmünd wurden darum passend zu den Inhalten der Qualifizierungen für hauswirtschaftliche Berufe thematische Kursmodule entwickelt, unter anderem zu den Themen „Umweltschutz“, „Hygiene“, „Ernährung“ und „Digitales“.
Um Menschen mit unterschiedlichem Profil Wege in die Erwerbstätigkeit zu eröffnen, schlug die Gmünder vhs gemeinsam mit den BIWAQ-Projektpartnern bei der Qualifizierung zwei Wege ein. In Kooperation mit einem Sozialunternehmen wird die niederschwellige Grundqualifizierung für haushaltsnahe Dienstleitungen angeboten, die nicht den Anspruch erhebt, schon auf einen bestimmten Beruf vorzubereiten. Ein weiterer Projektpartner bot zunächst Qualifizierungsmaßnahmen für die Baubranche an. Angesichts der Flaute im Baugewerbe konzentrieren sich die Maßnahmen nunmehr jedoch auf Handwerksberufe.
Die vhs Region Lüneburg bietet Einführungen in die Bereichen Bau und Produktion, Lager/Logistik, Pädagogische Mitarbeit an Grundschulen sowie Verkauf und Dienstleistung an. Möglich ist aber auch die Vorbereitung auf den Erwerb des Hauptschulabschlusses, der heute faktisch für den Einstieg in die meisten Ausbildungsberufe erforderlich ist.
Die Quartierswerkstätten der Hanauer Volkshochschule orientieren sich in ihrem Qualifizierungsprogramm am Modell der sogenannten Produktionsschulen. Dabei wird ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt: Vermittelt werden nicht nur die Konzipierung und die Herstellung eines Produkts, sondern auch dessen Vermarktung. Trockene Theorie kommt nicht vor, wohl aber erfährt man, warum im Arbeitsprozess was wie gemacht wird. All das trägt dazu bei, dass die Menschen in der Qualifizierungsmaßnahme sich mit ihrer Arbeit identifizieren und sie als sinnvoll erfahren. Dabei erwerben sie auch wichtige überfachliche Fähigkeiten: Bei der Erstellung eines eigenen Kochbuchs lernten die beteiligten Frauen beispielsweise auch, strukturiert am PC zu arbeiten.
In Wilhelmshaven stehen neben der Förderung berufsbezogener Sprachkenntnisse die berufliche Orientierung und die Unterstützung bei der Anerkennung im Herkunftsland erworbener Abschlüsse und Qualifikationen im Mittelpunkt, die in Deutschland nach wie vor kompliziert ist. Bei Bedarf werden auch EDV-Kurse angeboten.
Mit langem Atem zum Erfolg
Im BIWAQ-Projekt unterstützen vhs und ihre Partnerorganisationen Teilnehmer*innen mit Bewerbungstrainings und in Bewerbungsverfahren. Damit schließen sie eine Lücke: Die Jobcenter fordern die Menschen auf, sich auf Stellen zu bewerben, die im Projekt engagierten Volkshochschulen nehmen sich Zeit dafür, auch lange Bewerbungsprozesse zu begleiten.
Darüber hinaus bemühen sich die beteiligten vhs, Teilnehmer*innen in Praktika zu vermitteln. Das sei wichtig, sagt Clara Scheider von der Hanauer Volkshochschule: „Die Betriebe müssen wissen, dass es sich lohnt, mit einer Person einen Weg zu gehen, der lang ist und Engagement verlangt.“ Genau das sehen die vhs-Mitarbeiterinnen auch selbst immer wieder bestätigt. BIWAQ lebt von Erfolgen, die langen Atem brauchen und wenig spektakulär wirken, aber für Menschen im Quartier entscheidende Weichen stellen. Zum Beispiel für den Ingenieur aus dem Iran, der mit Hilfe der vhs Wilhelmshaven seinen Abschluss anerkannt bekam und ins Förderprogramm der IHK aufgenommen werden konnte. Oder die Kauffrau und die Pädagogin aus der Ukraine, die mit Unterstützung der vhs Hanau endlich in ihre erlernten Berufe zurückkehren konnten. Mit jeder Person aus den von BIWAQ betreuten Vierteln, die im Stadtgebiet eine Arbeit aufnimmt, wächst die Stadtgesellschaft etwas mehr zusammen.
Weitere Informationen
- Projektseite "BIWAQ | QuiS – Qualifizierung im Stadtteil" der vhs Region Lüneburg (externe Seite) (Öffnet in einem neuen Tab)
- Projektseite "Quartierswerkstätten Hanau" der vhs Hanau (externe Seite) (Öffnet in einem neuen Tab)
- Projektseite "Perspektiven schaffen" der vhs Wilhelmshaven (externe Seite) (Öffnet in einem neuen Tab)
- Projektseite Schwäbisch Gmünd "BIWAQ V: Zugang zum Arbeitsmarkt für Arbeitssuchende und Unterstützung lokaler Unternehmen" (externe Seite) (Öffnet in einem neuen Tab)